Zum 30. Todestag von Georg von Rauch.

Text vom Freundeskreis.

Die Texte stammen von der Seite:

http://fdgb.org

http://www.contramotion.com/dossier/gvr


 

Vor 30 Jahren, am 4. Dezember 1971, wurde der Revolutionär Georg von Rauch bei einem Feuergefecht von der Polizei in Westberlin erschossen.

 

Der fast dreißig Jahre währende Kampf zwischen der bewaffneten Fundamentalopposition und den Sicherheitsorganen der Bundesrepublik Deutschland hat zahlreiche Opfer gefordert. Auf beiden Seiten. Wie immer diese Auseinandersetzung heute politisch bewertet wird, als Abenteurertum, Fußnote der Geschichte oder revolutionäre Strategie, muß man den Historikern überlassen. Revolutionäre, Antiimperialisten, Helden für die einen, Desperados, Banditen, Terroristen für die anderen.

Wir wollen mit diesen Texten an einen Mann erinnern, der vor mehr als 30 Jahren zu den ersten gehörte, die fest davon überzeugt waren, daß es richtig und notwendig ist, die spätkapitalistischen Verhältnisse in der Bundesrepublik Deutschland mit der Waffe in der Hand zu bekämpfen.

Wir wollen an dieser Stelle auch mit einem Mythos aufräumen, der Georg von Rauch und seinem politischen Leben nicht gerecht wird. Als nach seinem Tod am Ort des Geschehens, in der Schöneberger Eisenacher Straþe, neben dem erschossenen Georg keine Waffe gefunden wurde, strickte die linke Bewegung seinerzeit den Mythos, Georg sei als Unbewaffneter von der Polizei ermordet worden. Die Solidarität der Linken galt dem Opfer Georg von Rauch. Georg war kein Opfer, er starb an jenem 4. Dezember 1971 als Kämpfer.


"Vielleicht bin ich auch nur ein Moralist"

Georg von Rauch war ein Mann, der mit Leidenschaft und Mut versucht hat, den herrschenden Verhältnissen in der Bundesrepublik Deutschland und Westberlin eine fundamentale Opposition entgegen zu setzen. Der 24-Jährige gehörte zu jener Gruppe von jungen Frauen und Männern, die sich Mitte des Jahres 1971 zu einer Untergrundgruppe zusammengeschlossen hatten, aus der wenig später die Bewegung 2. Juni wurde. Georg war ein Draufgänger, ein Unerschrockener. Einer, der bereit war, sein Leben in die Waagschale zu werfen, weil er fest davon überzeugt war, daß es sich lohnt, für eine bessere, eine sozial gerechte Welt zu kämpfen. Georg von Rauch war ein Mann der Tat. Sein politisches Selbstverständnis zog er aus Theorie und Praxis des historischen Anarchismus. Er konnte überzeugen, war in den Diskussionen voller Leidenschaft, aber nie dogmatisch. Selbst in heiklen Situationen verließ ihn nicht sein Witz. Er hatte Charme, er hatte Charisma, er konnte die Menschen mitziehen, sie begeistern. Und er genoß das Leben - und zwar in allem, was es ihm zu bieten hatte.

Als Georg von Rauch 1947 als jüngster von drei Söhnen eines Slawisitik-Professors in gutbürgerlichen Verhältnissen in Marburg geboren wurde, war keineswegs abzusehen, daß er sich eines Tages mit tödlicher Konsequenz auf die Seite der Verlierer, der Ausgebeuteten und Unterdrückten stellen würde. Mit 20 Jahren kam er 1967 zum Studium der Philosophie an die Freie Universität nach Westberlin. In der Frontstadt brodelte es bereits heftig. Es war die Zeit der Studentenbewegung. Eine Zeit des Aufbruchs, eine Zeit der Revolte gegen die alten, überkommenen Autoritäten und Werte der Adenauer-Ära. Am 2. Juni 1967 erschoß der Kriminalbeamte Kuras den Studenten Benno Ohnesorg. Der hatte mit Tausenden von Demonstranten friedlich gegen den Staatsbesuch des Schah von Persien in Berlin protestiert. Der Tod von Benno Ohnesorg radikalisierte die Studentenbewegung quasi über Nacht. Georg trat unverzüglich dem Sozialistischen Studenten Bund (SDS) bei, der an der Spitze der Protestbewegung stand. Fortan und bis zu seinem Tod war Georg in führender Rolle im militanten Flügel der Außerparlamentarischen Opposition (APO) aktiv.

Noch im Jahr 1967 gehörte er mit zu den Gründern der "Kritischen Universität", die sich die Zerschlagung der alten autoritären Ordinarien-Universität auf die Fahnen geschrieben hatte. Die gerade entstehende Kommune-Bewegung fand in Georg einen begeisterten Befürworter. Neben der bekannten Kommune 1 gründete er zusammen mit Gleichgesinnten die "Kommune Wielandstraße" in Charlottenburg. Es ging darum, neue Formen des Zusammenlebens auszuprobieren und die alten Moralvorstellungen der Adenauer-Ära hinwegzufegen. Es war die Zeit der nächtelangen Diskussionen über sozialistische Utopien und internationale Solidarität. Die Klassiker des Marxismus und Anarchismus wurden in den Zirkeln heiß diskutiert, während in der Bundesrepublik und Westberlin der Antikommunismus Staatsdoktrin war. Alte Nazis saßen wieder in führenden Funktionen in Politik, Kultur und Wirtschaft und bestimmten die gesellschaftliche Realität in der Bundesrepublik. In fünf Landtagen der BRD waren wieder, und das zum Teil mit zweistelligen Prozentzahlen, die neuen Nazis von der NPD präsent. Außenpolitisch war die BRD der treueste Vasall der USA, die über 300.000 Soldaten in der BRD stationiert hatten, ausgerüstet auch mit Atomwaffen. Mit Rückzugsräumen und Logistik unterstützte die BRD aktiv den verbrecherischen Krieg der Amerikaner gegen das vietnamesische Volk. Für viele junge Menschen war die Unterstützung der Bundesrepublik für diesen Krieg unerträglich und sorgte über Jahre für eine Radikalisierung innerhalb der APO.

Über einen langen Zeitraum war die "Wieland Kommune" auch das Zentrum illegaler Aktivitäten. Man druckte im Geheimen zahlreiche verbotene oder vergessene Klassiker des Marxismus oder Anarchismus. Die gesammelten Werke des Anarchisten Bakunin etwa. Oder die Geschichte der KPDSU-B. Aber auch zahlreiche Schriften zum Guerillakrieg: Stalins Werk über den Terrorismusì ebenso wie die Schrift "Großstadtguerilla" des US-Amerikaners Robert Williams oder die des militanten Italieners Piertro Cavallo "An die Studenten". Schriften, die damals in den Zirkeln der Linken und der aufkommenden Subkultur reißenden Absatz fanden.

Vor allem aber der verheerende Krieg der USA gegen Vietnam und die unabdingbare Solidarität der Bundesrepublik mit den "Amerikanischen Freunden" empörte die APO zutiefst. Die Proteste in Deutschland und Westberlin gegen den Krieg wurden zu Massenprotesten. Eilends rüstete die Regierung auf und ließ den Protest mit Polizeigewalt niederknüppeln. Nahezu jede Demonstration in diesen Jahren weitete sich zu einer Straßenschlacht aus, bei der es regelmäßig zahlreiche verletzte und verhaftete Demonstranten gab. Georg von Rauch war meistens in der ersten Reihe dabei, er wurde zur Führungsfigur des militanten Teils der APO.

Aber es war auch die Zeit der freien Liebe und des Drogenkonsums. Mit Flugblättern und in der Untergrundzeitung 883 riefen Georg und Genossen zum ersten "Freien Smoke-In" auf. Haschisch rauchen wurde hart verfolgt. Den Kiffern aber galt der Shit als Bewußtseinserweiternde Droge. Polizeirazzien in den Untergrund-Lokalen der Stadt waren bald an der Tagesordnung und endeten regelmäßig in Straßenschlachten. Weil die Rebellen sich nicht verbieten lassen wollten, was ihnen Spaß machte. Haschrebellen nannte man sich, und schon bald gab es einen "Zentralrat der umherschweifenden Haschrebellen". Motto: "High sein, frei sein, Terror muß dabei sein". Ziel der Haschrebellen war es, die Politisierung und Radikalisierung in die wachsende Subkultur zu tragen, die vorwiegend aus jungen Arbeitern bestand. Eine durchaus erfolgreiche Strategie. Das Attentat auf Rudi Dutschke im April 1968 heizte noch einmal die Gewaltdiskussion innerhalb der APO an. In der Wieland Kommune gingen fast all jene ein und aus, die später zu den Gründern der Rote Armee Fraktion (RAF) gehören sollten. Aber auch Funktionäre des SDS waren damals noch mit dabei, weil man es für richtig hielt, neben den legalen Aktivitäten auch eine illegale Struktur aufzubauen. Die militanten Aktionen in jenen Jahren fanden durchaus unter dem Beifall der gesamten APO statt.

Nach einem internationalen Solidaritäts-Camp für einen politischen Gefangenen im Bayrischen Ebrach, fuhr Georg zusammen mit anderen aus der Wieland Kommune in Richtung Italien. Dort wurde nächtelang mit jenen diskutiert, die später den Kern der Roten Brigaden bilden sollten. Aber es gab in Italien auch einen Kontakt zur palästinensischen Al Fatah. Georg folgte zusammen mit Thomas Weißbäcker, Ina Siepmann und anderen einer Einladung der Al Fatah zu einem Besuch nach Jordanien. In Guerillacamps der Fatah lernte man den Umgang mit Waffen, Sprengstoff und Taktiken des Guerillakrieges. Es war diese Gruppe von Genossen, die mit ihrem Besuch die erste Kontaktschiene zwischen deutschen Guerilleros, dem italienischen Untergrund und den Palästinensern öffnete.

Militanz

Im Westberlin und der Bundesrepublik nahmen die Brand- und Bombenanschläge auf Einrichtungen der Amerikaner, der Polizei und Justiz in dieser Zeit erheblich zu. In Westberlin agierten Gruppen mit wechselnden Phantasienamen wie "Tupamaros Westberlin", "Schwarze Ratten" und die "Militanten Panthertanten", die nach eigenem Bekunden Terror schon vor Rauschgift kannten. Ein illegaler Sender schaltete sich mehrmals in der Woche in das laufende Fernsehprogramm ein und verkündete bei laufendem Bild dem verdutzten Zuschauer ganz andere Töne:

"Wandelt euren Haß in Energie! In einem Stadium, wo der imperialistische Feldzug der Amis in Vietnam ein Schlag ins Wasser wird, ruft die Linke zu einem weltweiten Protest auf. Am Sonnabend, dem 15.11.69, ist die Vietnam-Demonstration, davor findet noch ein Teach-In im Audimax statt. Ob wir vom Vietcong gelernt haben, muß und wird sich vor Sonnabend und danach rausstellen.(...) denn der erste Kern der Stadtguerilla in den westlichen Metropolen kann sich nur im Kampf entwickeln. Bildet revolutionäre und subversive Zellen, nehmt den Kampf gegen das entmenschte System des Spätkapitalismus mit der Waffe in der Hand auf. Schafft auch hier die Bedingungen für den revolutionären Volkskrieg."

"I THINK THE TIME IS RIGHT FOR A VIOLENT REVOLUTION.

 

Die Jungen werfen zum Spaß

mit Steinen nach Fröschen,

die Frösche sterben im Ernst.

 

Mit anarchistischen Grüßen - Schwarze Front!"

 

Das Geld für den Sender hatte Georg übrigens von dem italienischen Verleger Feltrinelli bekommen. Die Westberliner Polizei rüstete unaufhörlich auf, konnte der Täter aber zunächst nicht habhaft werden. Man tappte im Dunkeln. Die Bilanz der Polizei war bitter: Etwa 120 Anschläge auf Polizei, Justiz und vor allem Agenturen der US-Streitkräfte in Westberlin waren Anfang 1970 unaufgeklärt. Und der Kampf aus dem Untergrund sollte noch eskalieren. Aber eine politische Entwicklung in der Bundesrepublik zwang die Untergrundkämpfer zunächst zu einer anderen Taktik. Im September 1969 gewann die SPD die Wahl und bildete mit der FDP die sozial-liberale Koalition. Zum erstenmal nach dem Krieg wurde ein SPD-Politiker Bundeskanzler: der Antifaschist Willy Brandt. Brandt mußte dem Massenprotest auf der Straße gegen den Krieg in Vietnam ebenso Rechnung tragen wie dem Wunsch nach Veränderung in Politik, Kultur und Gesellschaft, die längst Forderung von Hunderttausenden war.

Brandt kündigte an, "mehr Demokratie zu wagen", und versprach zugleich eine Amnestie für alle jene Studenten, die wegen ihres Protestes gegen Krieg und Nazis straffällig geworden waren. Das betraf einige Zehntausend. In den militanten Zirkeln war man sich darüber klar, daß dieser Zug der Bundesregierung eine Schwächung der Protestbewegung bedeuten würde. Längst liebäugelten ehemals militante Studentenfunktionäre mit der Gründung Kommunistischer Parteien oder mit dem Rückzug ins Private. Es kam zur Gründung gleich mehrerer Kommunistischer Parteien, die durchweg Studentenparteien waren und in ihren Ritualen die KPD der Weimarer Zeit bis zur Lächerlichkeit nachahmten. Die APO war im Zerfall, und der Elan von Tausenden wurde durch die verbissene Politik der K-Gruppen abgewürgt. Die Militanten wollten gegensteuern und verstärkten ihre Nacht- und Nebel-Aktionen und ihre öffentliche Agitation und Propaganda. Das Niveau der Anschläge wurde höher: Inzwischen knallten des Nachts vor Einrichtungen der USA und der Justiz gefährliche Rohrbomben. Aber der Zerfall der APO war nicht mehr aufzuhalten. Auch die Amnestie zeigte Wirkung. Es begann der Marsch durch die Institutionen und der Rückzug ins Private. Der "Marsch durch die Institutionen" führte geradewegs, wie man heute weiß, bis in die Spitze der Regierung. Die Steinewerfer von damals sind die Elite von heute.

Die ersten Steckbriefe

Zur Jahreswende 1969/70 prangten an Berliner Litfaßsäulen die ersten Steckbriefe: "Gesuchte Anarchisten.". Gesucht wurden aus dem Kreis um Georg ein Holländer mit dem Spitznamen "Bär" und die Arbeiter Bernd Braun und Michael Baumann (Bommi). Sie wurden verdächtigt, zusammen mit noch Unbekannten für verschiedene Bombenanschläge verantwortlich zu sein. Die aufgerüstete Polizei, Abteilung Staatsschutz, hatte sich an den neuen Gegner heran gearbeitet. Aber der "Blues", wie sich Teile der Militanten nannten, war weiter aktiv.

Als der Reporter der Illustrierten "Quick", Horst Rieck, einen Artikel über den Westberliner Untergrund veröffentlichte - Titel: "Wann brennt Westberlin?"- war man seitens des Blues schwer verärgert. Zu Recht fühlte man sich durch den reißerischen Artikel diffamiert. Es wurde beschlossen, den Journalisten Rieck zu bestrafen. Motto: Bestrafe einen und erziehe hundert. Zusammen mit Bommi, Hans Peter Knoll, Thomas Weißbäcker, Anne-Katrin Bruhns und Georg schritt man im Februar 1970 zur Tat. Der Zeitungsmann sollte in seiner Privatwohnung aufgesucht, zur Rede gestellt werden und eine kleine Abreibung verpaßt bekommen. Zum Zwecke der Propaganda sollte Rieck gefesselt und mit einem Schild um den Hals fotografiert werden. Aufschrift auf dem Schild: "Ich bin ein Journalist und schreib` nur Mist."

Alles ging im Chaos unter. Rieck wehrte sich heftig und schrie nach der Polizei. Tumult und Hilferufe alarmierten Hausbewohner, die dann die Polizei riefen. Die kam auch, und die Aktionisten gingen in Haft. Eigentlich sollte die Aktion gegen Rieck nur der Auftakt zu einer Kampagne gegen die reaktionäre Presse in der Halbstadt sein. Man hatte noch größeres vor. Gegen den Springer Verlag etwa, dessen Zeitungen sich tagtäglich in der Hetze gegen die APO fast überschlugen und die in der Stadt für ein Klima der Lynchjustiz sorgten. Bis auf Bommi, gegen den bereits ein Haftbefehl wegen anderer Delikte vorlag, wurden die anderen drei wenig später wieder freigelassen. Ein Ermittlungsverfahren wegen Körperverletzung kassierten sie allerdings. Es wurde weiter gemacht. Der Sitzungssaal des Kammergerichts brannte völlig aus; das Griechische Generalkonsulat wurde mit Mollotowcocktails angegriffen, um so gegen die faschistische Junta in Athen zu protestieren; vor dem US-Offiziersclub in Berlin-Dahlem explodierte eine Bombe; Brandbomben fanden auch einzelne Richter vor ihren Villen, weil sie sich durch besonders harte Urteile gegen APO-Aktivisten hervor getan hatten.

Während der "Blues" um Georg von Rauch noch eher kleinteilig arbeitete, gingen andere in die Startlöcher zum organisierten bewaffneten Kampf. Die RAF hatte sich gegründet. Von Anbeginn an wollte die RAF auch den Blues integrieren. Verhandlungen zwischen den Gruppen führte Georg. Aber der Blues verstand sich als antiautoritär und anarchistisch und lehnte die leninistische Stringenz der RAF-Aktivisten ab. Der Blues hatte auch nie Waffen getragen, was bei der RAF von Anfang an anders war.

Macht kaputt, was euch kaputt macht

"Macht kaputt, was euch kaputt macht", war die Losung des Blues, die vor allem von den Lehrlingen und Jungarbeitern richtig verstanden wurde. Man wollte gezielt die proletarische Subkultur ansprechen und zum aktiven Kampf gegen das "Schweinesystem" mobilisieren. Bommi sollte später sagen: "Unsere Gruppe war proletarisch bestimmt, die meisten von uns waren Arbeiter bis auf Georg und zwei, drei andere, die waren Studenten. Auf der anderen Seite die RAF, die vom Kern her eine rein studentische Gruppe war, also eine reine Intellektuellengruppe. Das Problem der Gewalt ist verschieden gehandhabt worden." (Aus: Bommi Baumann, "Wie alles anfing"). Im August 1970 kommt es dennoch zu einer gemeinsamen Aktion von Blues und RAF. Zeitgleich werden in Westberlin drei Banken überfallen. Eine Bank unter Beteiligung des Blues. Mit dabei: Georg von Rauch und sein Freund Thomas Weißbäcker. Dann kommt es im Herbst zu einem Fehler mit bösen Folgen. Selbstverschuldeter Leichtsinn gibt der Polizei eine erste harte Spur. Georg und Weißbäcker werden in ihren Wohnungen verhaftet. In Haft gehen auch Hans Peter Knoll und Heinz Brockmann, Annerose Reiche und Zupp. Während die RAF ihre Aktionen vor allem im Bundesgebiet entfaltet, sitzt Ende des Jahres 1970 ein großer Teil des Blues in Berlin hinter Gittern. Zwar haben ein paar Randfiguren Aussagen gemacht, aber die Beweislage bleibt dennoch sehr dünn.

Der doppelte Georg

Im Juli 1971 kommt es im Kriminalgericht Moabit zum Prozeß gegen Georg, Bommi und Thommy Weißbäcker. Vorwurf: Brand- und Bombenanschläge ohne Personenschaden. Die drei werden unter anderem von den Rechtsanwälten Otto Schily und Hans Christian Ströbele verteidigt. Damals die bekanntesten linken Anwälte der Republik. Für den vierten Verhandlungstag, den 9. Juli 1971, zeichnet sich ab, daß die Haftbefehle gegen Bommi und Thommy aufgehoben werden. In Haft soll nur Georg bleiben, dem die Staatsanwaltschaft weitere Anschläge anlastet. Am Morgen des 9. Juli werden die drei Angeklagten, übrigens gegen die ausdrückliche Anordnung des Vorsitzenden Richters, zum ersten Mal und aus Unachtsamkeit vor der Verhandlung für 30 Minuten in einer Vorschlusszelle zusammen eingesperrt.

Es war Georg, der die Idee mit dem Tausch hatte: Thommy und Georg hatten beide wallende, lange und dunkle Haare. Und beide trugen einen dunklen Vollbart. Nur Thommy war Brillenträger. In Eile reifte der Plan. Georg sollte die Brille von Thommy aufsetzen und sich auch auf dessen Platz im Gericht niederlassen. Alles lief glatt. Ob der heutige Innenminister Schily eingeweiht war, ist nicht überliefert. Auf jeden Fall machten die Rechtsanwälte den Tausch mit. Als der Richter am frühen Nachmittag die Haftbefehle gegen Bommi und Weißbäcker aufhob, verabschiedeten sich Bommi und der falsche Thommy und verließen unter dem Beifall der Zuhörer unverzüglich den Gerichtssaal. Thommy Weißbäcker alias Georg von Rauch wurde in den Zellentrackt zurückgeführt. "Was heißt hier von Rauch, ich bin Thomas Weiþbcker", empörte der sich eine Stunde später. Georg war längst in Sicherheit. Die Verwirrung der Justiz war perfekt. Nun kam der Richter nicht umhin, auch Weißbäcker auf freien Fuß zu setzen. Es war ein Fehler der Justiz, der nicht zu Lasten von Weißbäcker gehen durfte. Westberlin stand Kopf, und der Blues hatte seine Hauptaktivisten wieder in Freiheit. Wenige Tage zuvor waren schon Knoll und Brockmann mit Auflagen von der Haft verschont worden.. Schon einen Tag später hing das Fahndungsfoto von Georg in allen öffentlichen Gebäuden.

Bewegung 2. Juni

Knapp eine Woche nach Georgs spektakulärer Flucht aus dem Gerichtssaal fordert der Untergrundkampf die erste Tote. Im Hamburg geraten die RAF-Aktivisten Petra Schelm und Werner Hoppe in eine sogenannte "Baader-Meinhof-Fahndung". Petra Schelm wird dabei erschossen. Im Oktober des gleichen Jahres wird in Hamburg der Polizist Schmidt bei der Verfolgung von RAF-Aktivisten erschossen.. Allen Beteiligten ist spätestens jetzt klar: Dieser Kampf wird eine tödliche Auseinandersetzung. Georg trägt jetzt kürzere, rötlich-braun gefärbte Haare und hat ein Brille auf der Nase. Der Blues hat seinen ersten Illegalen. Konspirative Wohnungen werden angemietet, und Georg trägt fortan eine Waffe. Wieder wird mit der RAF über eine Integration des Blues verhandelt.

Aber man kam sich nicht näher. Für Georg war die RAF eher konzeptionslos und auch ihre Strategie, sich hauptsächlich auf das Gebiet der BRD zu konzentrieren, paßte dem Blues nicht. Der wollte in Westberlin agieren. Dennoch half die RAF: Mit Waffen und Geld. Ein Teil des Blues, so etwa Thomas Weißbäcker und Angela Luther, die noch heute gesucht wird, gingen zur RAF. Der größere Teil des Blues wollte eine eigene Logistik aufbauen und eine eigene Strategie entwickeln. Die Geburtsstunde der Bewegung 2. Juni. Es folgten zahlreiche Gespräche mit potentiellen Aktivisten und nächtelange Strategie-Diskussionen. Im Proletariat wollte man Fuß fassen, die Ausgebeuteten und Unterdrückten zur Revolte ermuntern. Aktionen sollten so angelegt sein, daß sie nicht nur für sich selbst sprachen, sondern für alle, die es wollten, immer auch nachmachbar. Zudem wollte man sich in viele kleine Zellen aufteilen, die dann autonom agieren und ihre Aktionen machen sollten. Im Spätherbst 1971 zählte die Gruppe, die sich bald schon den Namen "Bewegung 2. Juni" geben sollte, gut ein Dutzend Frauen und Männer, die fest entschlossen waren, den bewaffneten Kampf aufzunehmen. Verstärkt wurde die Gruppe auch durch Zugänge aus der RAF. Geld mußte her. In kurzen Zeitabständen gelangen der Gruppe mehrere Banküberfälle. Es waren die ersten Aktionen der neuen "Bewegung". Eine illegale Struktur wurde aufgebaut. Das bedeutete eine Vielzahl konspirativer Wohnungen, Autos und falscher Papiere. Im Spätherbst 1971 verfügte die Gruppe über eine solide konspirative Logistik. Die RAF, mit der man fortan in loser Verbindung stand, wollte, daß die Gruppe eine Gefangenenbefreiung durchführt. Aus der Haftanstalt für Frauen in der Berliner Lehrterstraþe sollten drei inhaftierte Frauen aus der RAF befreit werden. Die Vorbereitungen waren umfänglich. Allein die Aktion scheiterte, und die beteiligten Genossen entkamen nur um Haaresbreite der Polizei.

Georg wird erschossen

Am Nachmittag des 4. Dezember 1971 treffen sich Bommi, Knoll, Brockmann und Georg in einer konspirativen Wohnung. Ein Plenum ist angesagt. Bei Einbruch der Dunkelheit, so schlägt Georg vor, sollte man aus Gründen der Sicherheit noch eins der Doubletten-Autos umsetzen. Einen grauen Ford Transit, der schon seit 14 Tagen am Schöneberger Winterfeldtplatz parkte. Eine Doublette war ein Auto, das es zweimal gab. Man besorgte sich die Daten eines bestimmten Autos und klaute einen Wagen des gleichen Typs. Der geklaute Wagen wurde dann mit den gleichen Nummer-Schilder und technischen Daten des legalen Wagens versehen. Eine solche Doublette sollte umgesetzt werden, damit er nicht über längere Zeit an ein und der selben Stelle stand und eventuell auffallen könnte. Der Wagen war bereits aufgefallen und stand unter Observation der Verfolgungsbehörden.

Es ist bis heute nicht geklärt, wie die Polizei auf den Wagen kam. Auszuschließen ist lediglich Verrat. An diesem Sonnabend war überdies eine Großfahndung gegen die sogenannte "Baader-Meinhof-Bande" unter dem Codenamen "Trabrennen" in Westberlin angelaufen. Während ein Teil der Genossen den Wagen aufgeben wollten, plädierte Georg dafür, ihn doch umzusetzen. Es wurde für Umsetzen entschieden. "Er war eben ein Draufgänger und war der Meinung, daß es schon gut gehen würde", sagt einer der Beteiligten später. Gegen 18 Uhr nähern sich die vier dem Auto. "Wir haben nichts verdächtiges bemerken können", sagt Bommi, "und Georg und ich sind in den Ford eingestiegen." Alle vier waren mit großkalibrigen Pistolen bewaffnet. Knoll und Brockmann, letzterer am Steuer, folgen dem Ford mit einem VW-Variant, auch der eine Doublette. Ziel, das war abgemacht, die nicht weit entfernte Eisenacher Straße, ebenfalls in Schöneberg. Zwischen Kleiststraße und Fuggerstraße sieht Georg, am Steuer des Ford, eine Parklücke. Er wendet und parkt ein. Die beiden anderen bleiben in der zweiten Reihe auf der gegenüber liegenden Seite der Straþe mit dem VW stehen und sichern ab.

Dann geht alles ganz schnell. Zwei Zivilisten sind plötzlich da. Der eine, bewaffnet mit einer Maschinenpistole, fordert lautstark die beiden in dem VW zum Aussteigen auf. Im gleichen Augenblick bedroht der andere Georg und Bommi mit einer Pistole und ruft: "Polizei, sofort aussteigen und Hände hoch!" Brockmann sieht eine Chance, vier gegen zwei, und ergreift die Flucht. Er rennt, verfolgt von einem sichtlich nervösen Polizisten, der immer wieder versucht, seine MP durchzuladen, in Richtung Martin-Luther-Straþe. Der andere Polizist, hält Knoll die Pistole an den Kopf und tastet mit der freien Hand hastig alle drei oberflächlich ab. Immer wieder ruft er: "Verstärkung, ich brauche Verstärkung, Polizei, kommt her, kommt her!" Von der Einmündung Fuggerstraße her nähert sich rückwärts ein PKW mit zwei Männern. Aber sie kommen nicht mehr dazu einzugreifen.

"Als der Bulle bemerkt hat, daß wir Knarren im Hosenbund hatten, ist der fast ausgerastet und schnell zurück auf die Straße gerannt, immer seine Waffe auf uns gerichtet," sagt Bommi später. Entwaffnet hat der Kriminalobermeister Schulz die drei allerdings nicht. Er befahl ihnen, sich vor einem geschlossenen Antiquitätengeschäft im Haus Eisenacherstr. Nr. 2, mit erhobenen Händen an die Wand zu stellen. "Dann zuckte Georg mit der Unterlippe, bei ihm immer ein Zeichen höchster Erregung. Jetzt geht es los", erinnert sich Bommi. Georg zog, drehte sich um und schoß, aber auch der Kriminalhauptmeister Schulz schoß im gleichen Augenblick. Georg traf nicht, der Polizist hingegen traf tödlich. Sein erster Schuß traf Georg durch das linke Auge in den Kopf. Georg war sofort tot.

Dann brach ein Inferno los. Knoll und Bommi schossen. Knoll griff die Waffe des toten Georg und feuerte sogar beidhändig. Der Polizist Schulz wurde lediglich am Arm getroffen. Inzwischen schossen aber noch ganz andere. Aus der Einmündung Fuggerstraße her wurden die beiden von zwei Männern, die sich hinter einem Auto verschanzt hatten, ebenfalls unter Feuer genommen. Bommi und Knoll ergriffen die Flucht - unter Mitnahme von Georgs Waffe. "Es war wahnsinnig. Wir rannten um unser Leben. Durchs KADEWE durch, und weiter, immer verfolgt von dem Wagen mit den zwei Typen." Den beiden sollte die Flucht fürs erste gelingen. Auch Brockmann entkam, nicht zuletzt deshalb, weil der Verfolger nicht in der Lage war, die MP schußfertig zu machen. Kein Wunder, der Mann war ungeübt, denn er durfte seinen Dienst laut Gesetzt nur unbewaffnet ausüben. Er war ein Agent des Verfassungsschutzes. Aber nicht nur der Verfassungsschutz war vor Ort, sondern auch ein Antiterror-Kommando der "Sicherungsgruppe Bonn". Die Polizei hat diese Umstände, vor allem daß der Verfassungsschutz bewaffnet in Aktion war, bis heute bestritten. Aber die Munitionshülsen am Tatort sprechen eine andere Sprache. Keiner der bekannten Anwesenden hatte eine Pistole der Marke P 38 bei sich. Aber Hülsen aus der Waffe diesen Typs sind gefunden worden. Daß Knoll die Waffe von Georg mitgenommen hat, war dann die Grundlage für den bis heute bestehenden Mythos: "Georg ist von der Polizei ermordet worden."

Schon drei Tage später rief die Westberliner Linke zu einer Vollversammlung in das Audimax der Technischen Universität auf. Wollten die einen "Rache für Georg", forderten die anderen Aufklärung wegen des "Mordes an Georg von Rauch". Ein Ermittlungsausschuss wurde gegründet. Noch in der gleichen Nacht besetzten mehrere hundert Jugendliche das leer stehende Bethanien-Krankenhaus am Kreuzberger Mariannenplatz und tauften es auf "Georg von Rauch Haus". Mehr als 30 Jahre lang sollte das "Autonome Jugendzentrum" Georgs Namen tragen. Die Polit-Rock-Band "Ton Steine Scherben" widmete dem toten Georg den Song "Menschenjäger".

Jahre später sollte der Verleger Klaus Wagenbach wegen der Behauptung, Georg von Rauch sei "von der Polizei ermordet worden", einen Prozeß bekommen. Wagenbach hatte 1976 in einem "Roten Kalender", den sein Verlag herausgab, behaupten lassen: "4. Dezember 1971. Georg von Rauch von der Polizei ermordet." Die Polizei sah sich in ihrer Ehre verunglimpft und klagte gegen Wagenbach. Verteidigt wurde der Verleger damals von Otto Schily.

Für die "Bewegung 2. Juni" war Georgs Tod ein schwerer Schlag. Nicht alle machten weiter. Auch für Bommi und Hans Peter Knoll war der Tod des alten Freundes und Genossen Georg das Ende des bewaffneten Kampfes. Sie stiegen aus. Bommi: "Ich sehe mein Leben lang Georg neben mir umfallen."


Der "Freundeskreis Georg von Rauch" trifft sich aus Anlaß des 30. Todestags am 4. Dezember 2001 um 18 Uhr vor jenem Haus, vor dem Georg zu Tode kam. Ort: Eisenacher Straße vor dem Haus Nr. 2, zwischen Einmündung Fugger Straße und Kleist Straße.

Freundeskreis Georg von Rauch


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