Artikelarchiv 1972

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Rauch Haus Fotos


B.Z .am 7.01.1972
Seite 5
Autorin: Evelyn Köhler

Kontroversen um Bethanien

CDU löste heftige Debatte aus

Zu heftigen Kontroversen kam es gestern auf einer außerordentlichen Bezirksverordnetenversammlung in Kreuzberg zwischen der SPD und der oppositionellen CDU. Es ging um die "Besetzung" des Martha-Maria-Hauses auf dem Gelände des ehemaligen Bethanien-Krankenhauses. Die CDU wollte wissen, was das Bezirksamt getan habe, "um ähnlichen Übergriffen in Kreuzberg künftig vorzubeugen".

In ihrer Antwort versicherten Vertreter des Bezirksamtes, leerstehende Häuser sollten künftig frühzeitiger genutzt werden. So hoffe man, in Zukunft ähnliche Vorfälle zu vermeiden.

Zuvor hatte die CDU darauf hingewiesen, daß der "Fall Bethanien" einen Rechtsbruch darstelle, der in aller Öffentlichkeit verurteilt werden müsse. Weiter warf die CDU dem Bezirksamt vor: Die Behörde habe sich zu faulen Kompromissen und voreiligem Handeln verführen lassen.

Diese Überlegung war auch der Anlaß der großen Anfrage der CDU-Fraktion. "Was hat das Bezirksamt übernommen, um die rechtswidrige Inbesitznahme des ehemaligen Martha-Maria-Hauses im Bethanienkomplex durch überwiegend jugendliche Personen zu beenden", lautete der erste Teil der Großen Anfrage der CDU-Fraktion.

Bezirksbürgermeister Günter Abendroth und Jugendstadtrat Erwin Beck erwähnten in ihrer Antwort, daß inzwischen eine Rechtsgrundlage dadurch geschaffen worden sei, daß ein Nutzungsvertrag mit dem Jugendzentrum e.V. abgeschlossen wurde.

In der Debatte wurden die Vorwürfe der CDU scharf zurückgewiesen. Sprecher der SPD betonten, man habe hier ein Modell versucht, bei dem jungen Menschen die Möglichkeit gegeben wurde, sich selbst zu entfalten. Hätte man nach der Besetzung die Polizei um die Räumung gebeten, dann wäre das Problem von 500 entlaufenen Heimzöglingen, die sich ohne Wohnsitz in Berlin herumtreiben, auch nicht gelöst worden.


Der Abend am 19.04.1972
Autor: nicht benannt

Terror-Zentrale ausgehoben
Bei "Bethanien" eingerückt

Eigenbericht "Der Abend"

HES BERLIN, 19. April

Eine Großrazzia nahmen Beamte der Schutz- und der Krimalpolizei heute in den frühen Morgenstunden in dem seit einiger Zeit von Jugendlichen besetzten sogenannten "Georg von Rauch-Haus" auf dem Gelände des ehemaligen Bethanien-Krankenhauses in Kreuzberg vor. Rund 400 Beamte umstellten das Gelände am Mariannenplatz 1a und durchsuchten die Räume. Wie ein Sprecher der Politischen Polizei dem ABEND nach Abschluß der Aktion auf Anfrage mitteilte, wurden Beweismittel für Sprengstoff-Verbrechen der jüngsten Zelt" sichergestellt.

Darunter sind nach Auskunft des Sprechers auch solche, die in Zusammenhang mit dem Sprengstoffanschlag auf den Britischen Yachtclub in Kladow stehen, bei dem am 2. Februar der 66 Jahre alte deutsche Bootsbauer Straße benutzt worden sei.

Bei den Ermittlungen zur Aufklärung der Sprengstoff- und Brandanschläge der letzten Monate hatte die Politische Polizei auch die Bewohner des "Georg von Rauch-Haus" observiert. Die politische Polizei teilte dazu heute früh mit, daß ihr bekanntgeworden sei, daß in dem Gebäude Feuerlöscher des gleichen Typs aufbewahrt worden seien, wie sie bei dem Anschlag auf den Britschen Yachtclub verwandt worden seien. Außerdem habe man ein "präpariertes Rohr" gefunden, bei dem es sich vermutlich um den Sprengsatz handelte, der bei dem Anschlag auf das BVG-Gebäude in der Potsdamer Straße benutzt worden war.

Mit einem Beschluß des Amtsgerichts Tiergarten im "Rahmen eines Ermittlungsverfahrens" wegen Mordes zum Nachteil des Bootsbauers Erwin Beelitz" lief die Großaktion heute früh um 4 Uhr an. Nach ersten Angaben der Politischen Polizei hielten sich zum Zeitpunkt der Razzia 63 Personen in dem Gebäude auf.

27 davon wurden unter dem Verdacht, verschiedene Straftaten verübt zu haben, darunter Sprengstoff-Verbrechen und Ausweisfälschungen, vorläufig festgenommen. Ihre Überprüfung dauerte bei Redaktionsschluß des ABEND noch an.

Wie berichtet, hatte die Politische Polizei bereits vor einiger Zeit den Verdacht geäußert, daß die jüngsten Sprengstoffanschläge alle auf das Konto ein- und derselben Anarchistengruppe kämen.
Anmerkungen
Diese Razzia besingt Rio Reiser auch in dem "Rauch-Haus-Song". Eine Beschreibung der Razzia aus der Sicht von Bommi Baumann findet sich im Artikelarchiv hier.


Presseerklärung am 19.04.1972
Autoren: Kolletiv des Georg von Rauch-Haus

Presseerklärung

"Terrorzentrale" ausgehoben?

Wir warnen die Presse davor, diese oder aehnliche Behauptungen unter Missachtung der journalistischen Sorgfaltspflicht von der Polizei zu uebernehmen. Die uns angedichteten Sprengstoffsätze gibt es nicht! Die bisherige Praxis der Polizei, siehe Georg von Rauch, siehe Spitzel Urbach, zeigt, dass es fuer die Polizei kein Problem ist, die als Beweismittel benötigten Gegenstände vorher einzuschleusen. Welche Gegenstände wurden bei uns beschlagnahmt:
- leere und halbgefuellte Weinflaschen = Molotowcocktails,
- Batterien und Wecker = Zeitzuender,
- kaputtes Wasserrohr = Rohrbombe,
- normales Werkzeug aus Hobbywerkstatt = Einbruchswerkzeuge,
- Peruecken vom Lehrlingstheater = "Meinhoffperuecke", usw. usw.

Danach laesst sich jeder normale Haushalt je nach Bedarf als Terrorzentrale bezeichnen. Bei der Nacht und Nebelaktion heute mrogen um 4:15 Uhr drangen 800 schwerbewaffnete Polizisten in das Georg von Rauch-Haus ein, in dem 63 Jugendliche schliefen. Es ging dabei nicht darum, eine "Terrorzentrale" auszuheben, sondern die Polizei und Neubauer wollen das Projekt kaputtmachen. Wir stellen nochmals fest, das Georg von Rauch-Haus wurde nicht besetzt, um hier Sprengstoffwerkstaetten einzurichten, sondern Wohn- und Selbstbestimmungsmoeglichkeiten fuer Lehrlinge, Jungarbeiter und Trebegaenger zu schaffen.
Dieses fuer Berlin neue Projekt war bisher nachweislich erfolgreich. Die linke SPD konnte sich diesen Erfolgen nicht verschliessen. Durch ihre Bereitschaft, das Prjekt zu foerdern, lieferte sie dem Neubauerfluegel in der SPD und der CDU eine willkommene Angriffsflaeche fuer die parteiinternen Machtkaempfe.
Fuer uns ist klar, dass die Durchsuchung ein fadenscheiniger Vorwand war, um die erfolgreiche Arbeit der jugendlichen Arbeiter und Trebegaenger zu zerstoeren, weil der Erfolg dieser Arbeit die eigene jahrzehntelange Unfaehigkeit auf dem Sektor der Fuersorgeerziehung und der Jugendarbeit dokumentiert.
Mit Schuermaerchen will man uns von der uebrigen Bevoelkerung trennen.
Was sind die konkreten Folgen fuer die Jugendlichen, die inzwischen alle Arbeit gefunden haben:
- Verlust der meist muehsam gefundenen Arbeitsplaetze
- Kriminalisierung
- Erzeugung von Angst und Unsicherheit
Die ersten Gespraeche zeigten, dass die Senatsverwaltung Abteilung Jugend und Sport und das Bezirksamt Kreuzberg Abt. Jugend und Sport fassungslos und erschuettert dem polizeiterror gegenueberstanden.
Wir werden uns durch die Terrorzentrale Neubauers von unserer Arbeit nicht abhalten lassen!

Das Kollektiv des Georg von Rauch-Haus

Anmerkungen
Die Überschrift der Presseerklärung bezieht sich auf die gleichlautende Überschrift der Zeitung "Der Abend", die kurz zuvor am selben Tag erschien. Die Tatsache der leeren Weinflaschen besingt Rio in dem Lied "Rauch-Haus-Song". In dem Artikel des Telegraf vom 20.4. ist ein Foto der Flaschen bei der Beschlagnahmung zu sehen.


B.Z. am 20.04.1972
Seite 4
Autor: Klaus Berndt

Bastelten Bethanien-Besetzer die Bomben?

Beweismaterial bei Großrazzia sichergestellt

Mehrere hundert Beamte der Schutz- und Kriminalpolizei durchsuchten gestern früh völlig überraschend das seit Monaten von Jugendlichen besetzte Georg von Rauch-Haus" im ehemaligen Bethanien-Krankenhaus in Kreuzberg. Die Blitzaktion erfolgte auf Grund eines richterlichen Durchsuchungsbeschlusses.
Die Polizei konnte wichtiges Beweismaterial im Zusammenhang mit den Sprengstoffverbrechen und Brandanschlägen der letzten Zeit sicherstellen. Von den zunächst 28 Festgenommenen befanden sich gestern abend noch fünf Personen in Haft.
Alle verweigerten die Aussage

Drei von ihnen stehen im Verdacht, an Sprengstoffanschlägen beteiligt gewesen zu sein. Gegen einen weiteren lag ein Haftbefehl wegen Einbruchs vor. Die fünfte festgenommene Person ist eine Frau. Sie wird der Begünstigung einer "verbrecherischen Vereinigung" und der Abtreibung beschuldigt. Alle verweigerten bei der Politischen Polizei die Aussage. Im Zusammenhang mit den Festnahmen liefen auch gestern abend noch mehrere Wohnungsdurchsuchungen. Das Ergebnis stand bei Redaktionsschluß noch nicht fest.

Rund 400 Polizisten, fünf Staatsanwälte und ein Richter hatten an der sorgfältig geplanten Aktion teilgenommen. Sie begann vier Stunden nach Mitternacht und war erst gestern mittag gegen 12 Uhr beendet. Ein Sprecher der Politischen Polizei zur B.Z.: "Es gab keine Zwischenfälle. Die Zusammenarbeit zwischen allen Stellen verlief reibungslos. Wir hoffen, auf Grund der Durchsuchungsergebnisse bei der Aufklärung der Brand- und Sprengstoffanschläge erheblich weiterzukommen."

Vier Kinder unter den "Bewohnern"

Bei Beginn der Razzia" befanden sich 66 Personen im ehemaligen Martha-Maria-Haus. Darunter auch vier Kinder. Das jüngste war zwei Jahre alt. Sie wurden entweder den Eltern übergeben oder ins Hauptkinderheim gebracht. Die Polizei hatte den Durchsuchungsbeschluß erwirkt, nachdem bekanntgeworden war, daß sich in dem Gebäude ähnliche Feuerlöscher und präparierte Rohre befinden, wie sie in den letzten Monaten bei mehreren Anschlägen verwendet worden waren.
Das wurde im einzelnen sichergestellt: zwei Reisewecker, einer davon für einen Sprengsatz präpariert, zwei Kurzzeitwecker, vier geschaltete Batteriesätze, Schwefelsäure, Salpetersäure und Glyzerin - alles Bestandteile für die Herstellung von Sprengstoff - sowie ein zur Herstellung von Sprengstoff gebräuchliches Unkrautvernichtungsmittel und mehrere Flaschen mit Benzin.
Weiterhin fanden die Beamten von Bombenattentaten her bekanntes Klebeband, Aufzeichnungen über die Herstellung von Spreng- und Brandsätzen, mehrere Sprechfunkgeräte sowie einen Polizeischutzhelm. Wegen größerer Mengen aufgefundener rezeptpflichtiger Medikamente, Intrumente für Abreibungen und eines umgebauten Radiogerätes mußten sich ein Polizeiarzt, der zuständige Amtsarzt, ein Apotheker und Spezialisten der Post in die Ermittlungen einschalten.

Anmerkungen
Diese Razzia besingt Rio Reiser auch in dem "Rauch-Haus-Song". Es ist wahrscheinlich, daß Rio mit "Springers heißem Blatt" diesen Artikel der B.Z. meint.
Eine Beschreibung der Razzia aus der Sicht von Bommi Baumann findet sich im Artikelarchiv hier.


B.Z. am 20.04.1972
Seite 4
Autor: Rudolf Müller

"Der Versuch ist nicht gescheitert"

Nicht versagt" hat nach Auffassung der Jugendsenatorin Ilse Reichel das "sozialpädagogische Experiment" im ehemaligen Bethanien-Krankenhaus. Die Senatorin appellierte an die Öffentlichkeit, die Vorwürfe "nicht pauschal dem sozialpädagogischen Versuch anzulasten". Es bleibe lediglich der begründete Verdacht, daß einzelne Mitglieder des Kollektivs Straftaten begangen haben könnten, die auch geahndet werden müßten.

Die Senatorin hob hervor, daß bei der Arbeit mit Randgruppen wie in Bethanien niemals ausgeschlossen werden könne, daß auch Straftäter dort Aufnahme finden oder daß Jugendliche während ihrer Zugehörigkeit zum "Kollektiv" straffällig werden. Immerhin sei es den Sozialarbeitern in diesem Haus gelungen, den Aufenthalt von 28 Jugendlichen "zu legalisieren". Damit ist gemeint, daß diese Jugendlichen im Bethanien-Haus polizeilich mit der Zustimmung der Eltern angemeldet werden konnten und jetzt geregelt arbeiteten und zur Schule gehen. Die Senatorin bestätigte. daß der Senat erhebliche Gelder in das Bethanien-Haus investierte: Für das "Kollektiv" wurden Kühlschränke, Geschirr und die gesamte Wohneinrichtung beschafft. Für den Lebensunterhalt von etwa 65 Personen wurden sechs Wochen lang täglich pro Person neun Mark gezahlt.

Ganz anderer Meinung war gestern die CDU. Sie vertrat die Auffassung, daß sich die zuständigen Stellen "unfähig oder unwillig" gezeigt hätten. Nur so sei es zu erklären, daß sich das Jugendzentrum "zu einem kriminellen Terrorzentrum entwickeln konnte". Die CDU kündigte par1amentarische Konsequenzen an.


B.Z. am 20.04.1972
Seite 5
Autorenkürzel: P.A.

Das Experiment geht weiterOriginalfotos der B.Z.

Das Experiment Bethanien soll nicht abgebrochen werden. Das erklärte Kreuzbergs Jugendstadtrat Erwin Beck (SPD) gestern in einem Gespräch mit der B.Z.
Der 61jährige Kommunalpolitiker will den abschließenden Polizeibericht abwarten, ehe er in Zusammenarbeit mit der Senatorin für Jugend und Sport grundlegende Schritte unternimmt.
Beck: "Wir haben es uns nicht gewünscht, daß es in Berlin so viele Trebegänger gibt, die sozialisiert werden müssen. Aber wir haben aus der unerfreulichen Situation das Beste zu machen. Ich bin mir darüber im klaren, daß die Erziehung durch Gleichaltrige Neuland ist. Eines steht jedoch fest: Wer als Gesetzesbrecher oder Anarchist belangt wird, kann im Bethanien keinen Platz mehr haben."
Nach Aussagen des Stadtrates haben die drei Sozialarbeiter, die bis zum 15. April im sogenannten Georg von Rauch-Haus lebten, von ungesetzlichen Handlungen keine Kenntnis gehabt.
Anmerkungen

Interessant ist die suggestive Gleichsetzung von "Gesetzesbrechern" und "Anarchisten". Nachdenken!


Der Tagesspiegel am 20.04.1972
Ressort: Berliner Teil
Seite 12
Autorenkürzel: G. Sch. (außer mit Tsp gekennzeichnete Teile)

Polizei fand Material für Bomben-Bastler in Bethanien

400 Beamte zur Großrazzia – 23 von 28 Festgenommenen wieder entlassen

In einer Großrazzia der Polizei, zu der 400 Kriminalbeamte und Schutzpolizisten im Einsatz waren, wurde gestern früh das Martha-Maria-Haus auf dem Gelände des Bethanien-Krankenhauses am Mariannenplatz in Kreuzberg durchsucht. Wie mehrfach berichtet, war das Martha-Maria-Haus im Dezember von Jugendlichen besetzt und wenig später vom Bezirksamt für eine Nutzung durch diese Jugendlichen freigegeben worden. Die Abteilung der Polizei I, die für politische Delikte zuständig ist, hatte mehrere Hinweise erhalten, daß in dem Haus Gegenstände gesehen worden seien, die im Zusammenhang mit dem Mord an dem Bootsbauer Erwin Beelitz stehen könnten. Beelitz wurde bei einem Bombenanschlag am 2. Februar im britischen Yachtclub in Gatow tödlich verletzt.

Außerdem sollte aus diesem Haus ein präpariertes Rohr stammen, das bei dem Anschlag am 13. März auf des BVG-Verwaltungsgebäude benutzt worden war. Ferner erhielt die Abteilung I Hinweise, daß sich zwei Personen im Martha-Maria-Haus aufgehalten hätten, gegen die Haftbefehle wegen menschengefährdender Brandstiftung und wegen Straßenraubs bestanden. Die beiden wurden jedoch nicht angetroffen.
Die Durchsuchung begann um 4 Uhr und dauerte bis 12 Uhr 05. Insgesamt wurden 66 Männer und Frauen kontrolliert. Davon wurden 14 vorläufig in polizeiliche Verwahrung genommen. 23 Personen sind im Laufe des Vormittags wieder entlassen worden. Fünf – darunter drei, die dringend verdächtig sind, sich an Sprengstoffverbrechen beteiligt zu haben – blieben in Polizeihaft. Gegen einen lag ein Haftbefehl wegen Einbruchs vor, eine 29jährige Frau wurde wegen Verdachts der Begünstigung einer verbrecherischen Vereinigung nach § 129 StGB und Verdachts der Abtreibung festgehalten.
Eine Entscheidung, ob die vier Personen in Polizeihaft, gegen die noch kein Haftbefehl vorliegt, einem Vernehmungsrichter vorgeführt werden, steht nach Mitteilung der Polizeipressestelle noch aus. Die drei Festgenommenen, die unter dem Verdacht stehen, an Sprengstoffverbrechen beteiligt gewesen zu sein, verweigern jede Aussage.
Außerdem befanden sich in dem Haus, das die Jugendlichen "Georg von Rauch-Haus" genannt haben, vier Kinder im Alter von zwei bis 13 Jahren. Das zweijährige Kind lebte dort mit seiner Mutter. Ein Kind wurde den Eltern übergeben, ein Kind nach Rücksprache mit dem Vater entlassen, eins dem Hauptkinderheim zugeführt und eins der Mutter auf dem zuständigen Polizeirevier übergeben.
Bei der Durchsuchung ist eine größere Anzahl von Gegenständen sichergestellt worden. die nach Angaben der Polizei für die Aufklärung von begangenen Straftaten von Bedeutung sein könnten, darunter zwei Reisewecker (einer offensichtlich für einen Sprengsatz hergerichtet), ferner zwei Kurzzeitwecker, vier Batterien, davon zwei in Reihe geschaltet und mit angelöteten Kabeln versehen. Außerdem beschlagnahmte die Polizei Schwefelsäure, Salpetersäure und Glyzerin, die zur Herstellung von Nitroglyzerin-Sprengstoff geeignet sind; des weiteren zwei Literflaschen mit Benzin und Klebeband, bei dem es sich um Material handelt, wie es bei mehreren Sprengstoff- und Brandanschlägen in der Vergangenheit benutzt worden ist. Eine Büchse Unkraut-Vertilgungsmittel zur Herstellung von Sprengstoff geeignet und in der Vergangenheit vielfach dazu benutzt, ist ebenfalls sichergestellt worden. Die Polizei fand außerdem handschriftliche Aufzeichnungen über die Herstellung von Sprengstoff- und Brandsätzen, elektrische und sonstige Werkzeuge, einen Polizeischutzhelm, Handfunkgeräte und ähnliches. Die Auswertung des Beweismaterials dauert noch an. Beamte des Gewerbeaußendienstes, ein Amtsarzt und ein Apotheker waren außerdem zu der Razzia hinzugezogen worden, nachdem eine größere Menge rezeptpflichtiger Medikamente und ärztliche Instrumente gefunden worden waren, wie sie für Abtreibungen Verwendung finden. Ein Richter des Amtsgerichts Tiergarten sowie fünf Staatsanwälte waren bei der Razzia zur Unterstützung der Polizei anwesend.

Ilse Reichel: Nicht vorschnell diskriminieren

Zur Durchsuchung des Martha-Maria-Hauses nahm gestern nachmittag die Senatorin für Familie, Jugend und Sport, Reichel, vor Pressevertretern im Rathaus Schöneberg Stellung. Nach dem bisherigen Stand der Ermittlungen, so erklärte die Senatorin. möchte sie "dringend bitten, die Vorwürfe nicht pauschal dem sozialpädagogischen Versuch anzulasten". Eine vorschnelle Diskriminierung der ganzen Gruppe, die in Bethanien gewohnt und sich dort einer schweren Arbeit unterzogen habe, erscheine nicht gerechtfertigt.
"Die mir bekannten Ergebnisse", betonte die Senatorin, "lassen den Schluß nicht zu, daß das sozialpädagogische Experiment versagt hat, sondern lediglich den begründeten Verdacht, daß einzelne Mitglieder des Kollektivs Straftaten begangen haben können, die auch geahndet werden müssen".
Die Senatorin gab bekannt, daß es nach Auskunft der beiden in Bethanien arbeitenden Sozialarbeiter bis zum 11. April gelungen sei, den Aufenthalt von 28 Jugendlichen im Kollektiv zu "legalisieren". Für zwölf weitere Jugendliche habe die Legalisierung des Aufenthaltes, so unter anderem die Beschaffung der Zustimmung der Eltern und die polizeiliche Anmeldung, kurz vor dem Abschluß gestanden. Bei einer solchen Arbeit mit randständigen Gruppen könne auch niemals ausgeschlossen werden, daß auch Straftäter in einem solchen Kollektiv Aufnahme fanden oder daß Jugendliche während der Zugehörigkeit zu dieser Gruppe straffällig werden würden. Administrative Entscheidungen auf Grund der Durchsuchung des Hauses sind nach Auskunft der Senatorin derzeit noch nicht zu übersehen. Die Verwaltung bleibe für die Jugendlichen auch dann zuständig, wenn diese straffällig geworden seien.

CDU spricht von "Terrorzentrum"

Für die CDU erklärte gestern der Abgeordnete Dolota, die Befürchtungen seiner Partei, daß trotz einer Zusage eine ordnungsgemäße Aufsicht der Gruppe nicht gewährleistet werden könne, hätten sich bestätigt. Den Verwaltungen machte Dolota den Vorwurf, sie hätten sich unfähig oder unwillig gezeigt, die Entwicklung im ehemaligen Martha-Maria-Haus zu beurteilen und zu kontrollieren. Anders sei es nicht zu erklären, "daß sich das Jugendzentrum zu einem kriminellen Terrorzentrum entwickeln konnte". Dolata forderte die Verwaltung auf, Wiederholungen in anderen Bezirken von vornherein zu verhindern. Der CDU-Abgeordnete kündigte an, seine Fraktion werde dieses Thema parlamentarisch behandeln. (Tsp)

Stellungnahme des Kollektivs

In einer Pressekonferenz, zu der das "Kollektiv Georg von Rauch-Haus gestern nachmittag eingeladen hatte, wurde bestritten, daß von Bewohnern des Hauses Sprengsätze hergestellt worden seien. Bei den sichergestellten Chemikalien handele es sich um Restbestände aus dem ehemaligen Leichenschauhaus des Krankenhauses Bethanien. Die Bewohner des "Rauch-Haus" beklagten sich über das rüde Vorgehen einiger Polizeibeamter bei der Hausdurchsuchung, bei der insbesondere die weiblichen Bewohner obszönen Bemerkungen durch Polizeibeamte ausgesetzt gewesen seien. Die junge Mutter eines zweijährigen Kindes sei von Beamten geschlagen worden, als sie ihr Kind bei der allgemeinen Unruhe der Hausdurchsuchung in Sicherheit bringen wollte.
Auf der Pressekonferenz wurde die Befürchtung ausgesprochen, daß die Lehrlinge und Jungarbeiter nach dieser Razzia nun ihre unter Mühen erworbenen Arbeitsplätze verlieren könnten. Auch wird befürchtet, daß das sozialpädagogische Experiment im "Rauch-Haus" von den zuständigen Behörden abgebrochen werde.
Wie auf Anfrage der Kreuzberger Bezirksstadtrat Erwin Beck sagte, teile er die Ansicht der Senatsverwaltung für Familie, Jugend und Sport, daß das gerade begonnene sozialpädagogische Experiment nicht in Gefahr geraten dürfe und erst einmal abgewartet werden müsse, zu welchen Ergebnissen die polizeilichen Ermittlungen kommen werden.
Ein in den gestrigen Abendstunden in Kreuzberg in Umlauf gebrachtes Flugblatt der Bewohner des "Rauch-Haus" wirbt bei der Bevölkerung um "Solidaritätserklärungen" und ist überschrieben: "Faschistischer Überfall der Polizei auf das Georg von Rauch-Haus!" (Tsp)


Berliner Morgenpost am Donnerstag, dem 20.04.1972
Ressort: Lokales
Seite 3
Autor: D. Discher

Bethanien: Terrorzentrum oder Experimentierfeld mit Fehlern?
Bei Razzia in Wohnkollektiv Materialien für Attentate gefunden

Vom Turm des Bethanien-Krankenhauses am Mariannenplatz in Kreuzberg hallten vier Glockenschläge. Autotüren klappten, plötzlich geisterten Scheinwerferstrahlen über geklinkerte Fassaden. Fast lautlos bildeten Polizisten eine Kette um das ehemalige Krankenhausgelände. Nur neun Minuten später standen Uniformierte und Beamte in Zivil (sie sind von der Kripo) auf den Gängen des Martha-Maria-Hauses, das jetzt von einem Wohnkollektiv in anarchistischer Heldenverehrung "Georg von Rauch-Haus" genannt wird.

Vor dem Morgengrauen gelang gestern früh der Polizei eine organisatorische Meisterleistung. Etwa 400 Polizisten - unter ihnen ungefähr 150 Kripobeamte - riegelten innerhalb weniger Minuten unter der Einsatzleitung des Kriminaldirektors Alfred Eitner von der Abteilung I (sie ist für politische Delikte zuständig) das Gelände des ehemaligen Krankenhauses ab.
Ziel der Aktion war das Martha-Maria-Haus, in dem zur Zeit 66 Personen leben. Wir hatten mit etwa 100-150 gerechnet, sagte gestern vormittag Alfred Eitner.
Ausgelöst wurde die Großrazzia durch konkrete Hinweise. Danach sollten im Martha-Maria-Haus Feuerlöscher des Typs gesehen worden sein, die als Zeitbomben beim Sprengstoff-Anschlag auf den britischen Yacht-Club in Gatow am 2. Februar dieses Jahres verwendet worden waren. Dabei kam der 66jährige Bootsbauer Erwin Beelitz ums Leben.

Als Brandstifter gesucht

Außerdem hatte die Polizei den Tip bekommen, daß sich der 24jährige Heinz Brockmann in dem Wohnkollektiv des ehemaligen Krankenhausgebäudes aufhalte. Er wird wegen menschengefährdender Brandstiftung gesucht. Gegen ihn wurde Haftbefehl erlassen, weil er beschuldigt wird, vor etwa zwei Jahren in den Räumen einer Wilmersdorfer Leasing-Firma in der Bundesallee ein Feuer gelegt zu haben.
Auch für das Raubdezernat der Kripo schien die Razzia interessant. Denn sie erhielt einen Hinweis, daß in dem vom Wohnkollektiv besetzten Haus ein 17 Jahre alter Jugendlicher lebt, der wegen Straßenraubs gesucht wird.
Die beiden Gesuchten wurden während der achtstündigen Aktion nicht gefunden. Dagegen wurden insgesamt 28 Bewohner des Gebäudes vorläufig festgenommen.; die Hälfte von ihnen kam in "polizeiliches Gewahrsam". Es ging vor allem darum, die Identität festzustellen. 23 wurden nach kurzer Zeit wieder freigelassen. Von den fünf noch Festgenommenen sind drei dringend verdächtig, sich an Sprengstoffverbrechen beteiligt zu haben. Ein Haftbefehl wegen schweren Diebstahls wurde bereits vollstreckt. Der "Fünfte im Bunde" steht unter dem Verdacht, die Bildung einer Bande begünstigt und eine Abtreibung vorgenommen zu haben.

Für Abtreibungen

In einem Raum der "Schwarzen Hilfe" wurden neben zahlreichen rezeptpflichtigen Medikamenten - sie wurden vom Amtsarzt sichergestellt - auch Instrumente gefunden, die zur Abtreibung benutzt werden.
Dazu ein Sprecher des Wohnkollektivs: "Diese Instrumente stammen aus einer aufgelösten Wilmersdorfer Klinik." Und die Senatorin für Familie, Jugend und Sport, Ilse Reichel, in einer Pressekonferenz: "Für uns ergab sich kein Verdacht der Abtreibung."
Bei der Durchsuchung beschlagnahmte die Polizei Schwefelsäure, Salpeter und Glyzerin. Das sind chemische Stoffe, mit denen man hochexplosiven Sprengstoff herstellen kann und die auch bei Anschlägen in der letzten Zeit verwendet wurden. "Es ist absurd, zu vermuten, daß es in diesem Haus Sprengstoff gibt", sagte ein "Mitglied des Hauses" während der polizeilichen Untersuchung.

"Zeitzünder"

In einer späteren Presseerklärungbetonte das "Kollektiv", daß das von der Polizei sichergestellte "Einbruchswerkzeug" aus einer "Hobby-Werkstatt" stamme, daß eine "Rohrbombe" ein "kaputtes Wasserrohr" sei und "Batterien und Wecker" von der Polizei als "Zeitzünder" mitgenommen wurden. "Danach läßt sich jeder normale Haushalt je nach Bedarf als Terrorzentrale bezeichnen", heißt es in der Kollektiv-Erklärung.
Aber: Die Polizei fand auch handschriftliche Aufzeichnungen über die Herstellung von Spreng- und Brandsätzen sowie Funkgeräte.
In der "Kollektiv-Erklärung" heißt es weiter, daß der CDU durch die Großrazzia eine willkommene Angriffsfläche für die parteiinternen Machtkämpfe geliefert worden sei.
Der dem Ausschuß für Familie, Jugend und Sport vorstehende CDU-Abgeordnete Dolata argumentierte in einer schriftlichen Stellungnahme: "Nach Ansicht der CDU haben sich die zuständigen Stellen als unfähig oder unwillig gezeigt, die Entwicklung im ehemaligen Martha-Maria-Haus zu beurteilen und zu kontrollieren. Anders ist es nicht zu erklären, daß sich das Jugendzentrum zu einem kriminellen Terrorzentrum entwickeln konnte."
Die Befürchtungen der CDU, daß trotz Zusage eine ordnungsgemäße Aufsicht nicht gewährleistet werden könne, haben sich bestätigt, heißt es weiter in der offiziellen Erklärung. Zuständige Senatsdienststellen werden aufgefordert, Wiederholungen an bereits erkennbaren Stellen in anderen Bezirken von vornherein zu verhindern. Die CDU-Fraktion des Abgeordnetenhauses droht mit einer parlamentarischen Behandlung dieses Themas.
Zwischen herumliegenden Matratzen, Farbtöpfen und schmutzigem Geschirr - die Ankündigung auf dem Schwarzen Brett "Donnerstag 10 Uhr Saubermachen - alle" liest sich wie echoloser Ruf - klingt die Drohung der Kollektiv-Bewohner, sich zu wehren, massiver. Sie rufen nach Solidarisierung - und werden sie mit Sicherheit finden. Sie erheben die Finger und drohen: "Unsere Solidarität wird jetzt noch größer sein."

Ansprüche erfüllt

Eine gewisse Solidarität erfährt das Kollektiv im Bethanien-Krankenhaus auch von der Jugendsenatorin Ilse Reichel. Sie bittet, die Vorwürfe nicht pauschal einem sozialpädagogischen Versuch anzulasten. Wobei sie nicht ausschließt, daß sich auch Straftäter in solchen Kollektiven niederlassen können. In erster Linie habe das Wohnkollektiv sich darum gekümmert, Arbeitsplätze für Jugendliche aus "defekten Familien" zu schaffen und den Schulbesuch zu organisieren. Diese Ansprüche seien vom Jugendzentrum weitgehend erfüllt worden.
"Die mir bisher bekannten Ergebnisse lassen den Schluß nicht zu, daß das sozialpädagogische Experiment versagt hat", erklärt Ilse Reichel. Sie läßt lediglich den begründeten Verdacht gelten, daß einzelne Mitglieder des Kollektivs Straftaten begangen haben können, die auch geahndet werden müssen.

Heimstatt gefunden

Kreuzbergs Jugendstadtrat Erwin Beck ist schon im wesentlichen der Meinung "seiner" Senatorin. Er registriert gute Fortschritte bei allen vorhandenen Schwierigkeiten der sozialpädagogischen Arbeit im Wohnkollektiv des ehemaligen Krankenhaus-Gebäudes. Beck betont, daß "Geschädigte der Gesellschaft" eine Heimstatt gefunden hätten. Über die Zukunft des Wohnkollektivs kann er keine verbindliche Auskunft geben. Denn sie wird erst in Absprache mit der Senatsverwaltung für Familie, Jugend und Sport entschieden, wenn ein detaillierter Polizeibericht vorliegt. Das war gestern nachmittag noch nicht der Fall.
"Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser", lautet die gestrige Erkenntnis. Bei allem Wohlwollen für die Gruppe kommt Jugendsenatorin Ilse Reichel aber auch zu dem Schluß: "Kontrolle bringt noch keine Veränderung." Und das scheint Kritik an der Großrazzia, die nach Ansicht der Senatorin kein positiver Beitrag zum sozialpädagogischen Experiment ist, zu sein.
Anmerkungen
Diese Razzia besingt Rio Reiser in dem "Rauch-Haus-Song". Eine Beschreibung der Razzia aus der Sicht von Bommi Baumann findet sich im Artikelarchiv hier.


Berliner Morgenpost am 20.04.1972
Seite A 17
Ressort: Berliner Lokalanzeiger
Autorenkürzel: wbr

Bethanien

Die von der Polizei veröffentlichte Liste von zeitweilig festgenommenen Personen und sichergestellten Gegenständen bei der Durchsuchung des Martha-Maria-Hauses im ehemaligen Bethanien-Komplex liest sich wie das Kompendium einer aufgedeckten Verschwörung. Selbst wenn man in Wahrung der Objektivität einige übertriebene Verdachtsmomente abstreicht, bleibt genug für den Schluß, daß Justiz und Polizei ein Nest des Untergrunds und der Kriminalität ausgehoben haben. Vermutungen und Befürchtungen waren schon des öfteren laut geworden, daß sich in diesem Bethanien-Haus mit Hilfe von Jung- und Altsozialisten aus Senat und Kreuzberger Bezirksamt eine gesellschaftliche Randgruppe niederlassen könnte, die den Wunschvorstellungen nach "Resozialisierung" nur vordergründig nachkommen würde. Dies hat sich nun bestätigt. Was allerdings Frau Senator Reichel nicht an der Behauptung hindert, das "sozialpädagogische Experiment" habe nicht versagt. Die Frage ist: Wieviel kriminelles Handwerkzeug, von Sprengstoff-Utensilien bis zu Abtreibungsbestecken, muß die Polizei noch finden, bis daß SPD-Linksaußen wie Frau Reichel die Fehler ihrer verträumten Sozialpolitik zugeben?


Rheinische Post (Düsseldorfer Zeitung mit CDU-Beteiligung) am 20.04.1972
Autorin: Gabriele Müller

Großrazzia im Jugendzentrum

Berlin - Als Unterschlupf einer Anarchistengruppe entpuppte sich ein Gebäude des früheren Bethanien-Krankenhauses in Kreuzberg. Bei einer Großrazzia fand die Polizei gestern Feuerlöscher des Typs, der bei einem Sprengstoffanschlag auf den britischen Jachtclub am 2. Februar verwendet worden war. Bei dem Anschlag war ein 66jähriger deutscher Bootsbauer getötet worden. Ferner entdeckten die Beamten präparierte Rohre für Sprengsätze und andere Beweismittel zu verschiedenen Sprengstoffverbrechen der letzten Zeit.

Ende vergangenen Jahres hatten Jugendliche das Martha-Maria-Haus des seit längerer Zeit leerstehenden Bethanien-Krankenhauses besetzt und in "Georg von Rauch-Haus" umbenannt, nach dem Anarchisten, der bei einer Schießerei mit Polizisten getötet worden war. Die Jugendlichen richteten in dem alten Backsteingebäude eine sogenannte "Basisgruppe Heim- und Lehrlingsarbeit" ein. Doch bald wurde deutlich, daß eine Anarchistengruppe dort Unterschlupf gefunden hatte. Im ehemaligen Krankenhaus sollen Sprengsätze hergestellt und Ausweispapiere gefälscht worden sein.

Um: vier Uhr morgens umstellten etwa 400 Schutz- und Kriminalpolizisten daß "Georg von Rauch-Haus" und begannen mit der gründlichen Durchsuchung. Sie trafen 63 Personen an, vorwiegend Jugendliche, aber auch Kinder. 27 Personen wurden vorläufig unter dem Verdacht festgenommen, verschiedene Straftaten verübt zu haben, darunter Sprengstoffanschläge und Ausweisfälschung. Die im Schlaf überraschten Bewohner hatten keine Gelegenheit zur Flucht oder Gegenwehr. Die Groß-Razzia war nach drei Stunden beendet. Dabei wurden auch Instrumente, die zur Abtreibung benutzt wurden, sowie rezeptpflichtige Medikamente gefunden.


Der Telegraf am 20.04.1972
Seite 16
Autor nicht benannt

Viel Wirbel um Razzia im "Georg von Rauch-Haus"

Sprengstoff beschlagnahmt – Ilse Reichel: "Nichts pauschalieren"

Während einer Großrazzia im Zusammenhang mit verschiedenen Sprengstoffanschlägen der letzten Zeit durchsuchten in der Nacht zu gestern rund 400 Beamte der Schutzund Kriminalpolizei das ehemalige Bethanienkrankenhaus in Kreuzberg.

"zehn leere Flaschen können schnell zehn Mollis sein"Das Martha-Maria-Haus, von den Jugendlichen in "Georg von Rauch-Haus" umbenannt, des seit längerer Zeit leerstehenden Bethanien-Komplexes war Ende vergangenen Jahres von Jugendlichen "besetzt" worden, um dort eine sogenannte "Basisgruppe Kreuzberg Heim- und Lehrlingsarbeit" zu etablieren.
Bei der Razzia sind nach einer abschließenden Pressemitteilung der ’Abteilung Eins, die in Zusammenarbeit mit der Staatsanwaltschaft herausgegeben wurde, 66 Männer und Frauen kontrolliert worden. 28 wurden vorläufig festgenommen und bis auf fünf in den gestrigen Vormittagsstunden wieder entlassen.

Aussage verweigert

Von den fünf Personen, darunter zwei Frauen, die sich noch in Polizeihaft befinden, sind drei dringend verdächtigt, sich an Sprengstoffverbrechen beteiligt zu haben. Sie verweigerten bisher die Aussage. Außerdem lag gegen sie ein Haftbefehl wegen Einbruchs vor.
Die Polizei beschlagnahmte eine größere Anzahl von Materialien, die für die Aufklärung von begangenen Sprengstoffund Brandanschlägen von Bedeutung sein könnten. Darunter befinden sich zwei Reisewecker, wovon einer offensichtlich für einen Sprengsatz hergerichtet ist, zwei Kurzzeitwecker, vier Batterien mit zum Teil angelöteten Kabeln. Benzin und Säuren zur Herstellung von Nitroglyzerin-Sprengstoff.

Außerdem wurden handschriftliche Aufzeichnungen über die Herstellung von Brandsätzen sichergestellt. Die Polizei entdeckte einen Polizeischutzhelm, Handfunkgeräte und Papier, größere Mengen rezeptpflichtiger Medikamente sowie ärztliche Instrumente, die für Abtreibungen Verwendung finden.

Nicht versagt

Die bisher bekannten Ergebnisse der Razzia im Wohnkollektiv des Jugendzentrums Kreuzberg im ehemaligen Bethanien-Krankenhaus lassen nach Ansicht der Senatorin für Familie, Jugend und Sport, Ilse Reichel, nicht den Schluß zu, daß das dortige sozialpädagogische Experiment versagt hat. Auf einer Pressekonferenz sagte Ilse Reichel, es sei nach Auskunft der dort tätigen Sozialarbeiter des Jugendamtes Kreuzberg gelungen, den Aufenthalt von 28 der dort ständig gemeldeten 48 Jugendlichen zu legalisieren. Für weitere 12 Jugendliche habe die Legalisierung, die in der Beschaffung der Zustimmung der Eltern, polizeilicher Anmeldung u. a. besteht, kurz vor dem Abschluß gestanden.

Keine Diskriminierung

Ilse Reichel bat dringend, die Vorwürfe nicht pauschal dem sozialpädagogischen Versuch anzulasten. Die vorschnelle Diskriminierung einer ganzen Gruppe sei nicht gerechtfertigt. Jetzt sei eine massive Verunsicherung der Jugendlichen eingetreten. Diejenigen, die einen Arbeitsplatz hätten, fürchteten um dessen Erhalt.

Und so sieht es das "Kollektiv des Georg von Rauch-Haus": Das Haus sei nicht besetzt worden, um hier Sprengstoffwerkstätten einzurichten, sondern um Wohn- und Selbstbestimmungsmöglichkeiten für Lehrlinge, Jungarbeiter und "Trebegänger" zu schaffen, heißt es in einer Presseerklärung des Kollektivs. "Mit Schauermärchen will man uns von der übrigen Bevölkerung trennen." Die konkreten Folgen für die Jugendlichen seien Verlust der mühsam gefundenen Arbeitsplätze, Kriminalisierung sowie die Erzeugung von Angst und Unsicherheit.
Anmerkungen
Auf dem von mir mit einem roten Pfeil markierten Foto sind einige der Weinflaschen zu sehen, die von der Polizei als "Molotowcocktails" beschlagnahmt wurden. Das besingt Rio auch in dem "Rauch-Haus-Song" und wird in der Presseerklärung des Rauch-Haus Kollektivs bemängelt.


B.Z. am 21.04.1972
Seite 4
Autor: Wolfgang Schöne

Haftbefehl gegen zwei Bethanien-Besetzer

Unter dem dringenden Verdacht des versuchten Mordes im Zusammenhang mit einem Sprengstoffattentat erließ der Vernehmungsrichter gestern abend Haftbefehl gegen den 16jährigen John B. Ein zweiter Haftbefehl wurde gegen den 20jährigen Michael K. erlassen. Er wird der Vorbereitung eines Sprengstoffanschlages beschuldigt. Beide Jugendlichen waren Insassen des sogenannten "Georg von Rauch-Haus" auf dem ehemaligen Bethanien-Gelände, das Mittwoch früh von der Polizei durchsucht wurde.

Wie die B.Z. berichtete, waren dabei in einem Raum Wecker, zusammengelötete Batterien und Chemikalien gefunden worden, die zur Herstellung von Sprengstoff geeignet sind. Der Raum war von Michael K. und einem 16jöhrigen Mädchen bewohnt worden. Die Jugendliche wurde gestern jedoch vom Haftrichter auf freien Fuß gesetzt, weil gegen sie der geforderte "dringende Tatverdacht" nicht ausreichend erschien.
Die schwere Beschuldigung des versuchten Mordes gegen den 16jährigen John B. bezieht sich auf den Sprengstoffanschlag am 13. März im Verwaltungsgebäude der BVG in der Potsdamer Straße in Schöneberg. Warum der Jugendliche für dieses Attentat in Frage kommen soll, wird von der Kripo noch nicht bekanntgegeben. Es heißt aIlerdings, daß die bei dem BVG-Anschlag verwendeten Materialien auch bei einer Serie anderer Attentate benutzt worden sind. Unter anderem bei der Explosion im britischen Yacht-Club Anfang Februar, bei der ein mit Sprengstoff gefüllter Feuerlöscher den gleichen Zündmechanismus hatte. Bei der Explosion war der 66jährige Bootsbauer Erwin Beelitz getötet worden.
Es wird geprüft, ob der 16jährige auch für diese Anschläge als Täter in Frage kommt.


Schwarze Protokolle am 01.07.1972
Nr. 1, Berlin-West
Autor: Ton Steine Scherben

MUSIK IST EINE WAFFE

Musik ist eine Waffe!

Musik kann zur gemeinsamen Waffe werden, wenn du auf der Seite der Leute stehst, für die du Musik machst! Wenn du mit deinen Texten etwas sagst und eine Situation nennst, die zwar alle kennen, die aber jeder vereinzelt in sich hineingefressen hat, dann werden alle hören, daß sie nicht die einzigen sind, die damit noch nicht fertig geworden sind und du kannst ihnen eine Möglichkeit zu Veränderung zeigen.

Musik kann also zur Waffe werden, wenn du mit ihr die Ursachen deiner Agressionen erkennst. Wir wollen, daß du deine Wut nicht verinnerlichst, daß du dir darüber klar wirst, woher deine Unzufriedenheit und deine Verzweiflung kommen.

Wir wollen die Feinde des Volkes nennen: "Macht kaputt, was euch kaputt macht - zerstört das System, das euch zerstört!" Unsere Musik soll ein Gefühl der Stärke vermitteln. Unser Publikum sind Leute unserer Generation: Lehrlinge, Rocker, Jungarbeiter, "Kriminelle", Leute in und aus Heimen. Von ihrer Situation handeln unsere Songs.

Lieder sind zum Mitsingen da. Ein Lied hat Schlagkraft, wenn es viele Leute singen können Unsere Lieder sind einfach, damit viele sie mitsingen können. Wir brauchen keine Ästhetik; unsere Ästhetik ist die politische Effektivität. Unser Publikum ist der Maßstab und nicht irgendwelche ausgeflippten Dichter. Von unserem Publikum haben wir gelernt Lieder zu machen, nur von ihnen können wir in Zukunft lernen, Lieder für das Volk zu schreiben.

Wir sind in keiner Partei und in keiner Fraktion. Wir unterstützen jede Aktion, die dem Klassenkampf dient. Egal, von welcher Gruppe sie geplant ist.

Wir werden in Berlin und Westdeutschland vor und in Betrieben und in den Jugendheimen der Arbeiterviertel spielen. Dazu zeigen wir Dias, die eine Ergänzung zur Musik und zum Text bilden.

Das Ziel ist es, unsere Aktionen den jeweiligen Situationen in den Betrieben oder Stadtteilen anzupassen.

Dazu brauchen wir die Unterstützung der dort arbeitenden Gruppen.


Spontan im September 1972
Ausgabe 9/72
Ressort: Kritik und Nachricht
Seite 16-19
Autor: Peter van Spa[...; nicht lesbar]

Westberlin I:

Was wir brauchen...

Das Georg von Rauch-Haus, ein Modell emanzipatorischer Jugendarbeit

"Was wir brauchen, müssen wir uns nehmen", heißt eine Parole Westberliner Jugendkollektive, die schon seit langem an eigenen Projekten arbeiten und deshalb sehr genau wissen, daß das zunächst völlig unabhängig von den staatlichen und konfessionellen Freizeiteinrichtungen passieren muß, wo man sie nicht unterstützt und unter Kontrolle zu bringen versucht, was ihnen mit der Zeit die Lust am kritischen Engagement nimmt. Das Westberliner Georg von Rauch-Haus ist dafür beispielgebend. Wie kam es zu diesem Projekt?

Das ebenfalls aus einer Hausbesetzung hervorgegangene Kreuzberger Jugendzentrum e. V., die Basisgruppe Heim- und Lehrlingsarbeit und einige Stadtteilgruppen, die keiner Partei angehören, diskutierten über die Nutzungsmöglichkeiten für das seit Jahren leerstehende staatliche Bethanien-Krankenhaus, das bezugsfertig, seit zwei Jahren ständig beheizt, mit großem schönen Parkgelände - der arbeitenden Bevölkerung vorenthalten wurde. Es liegt im Arbeiterbezirk Kreuzberg, wo es keine Grünflächen, zuwenig Kindergärten, Schulen und Freizeiteinrichtungen für Jugendliche gibt. Die Gruppen einigten sich aus diesem Grunde auf eine Öffentlichkeitskampagne (Demonstration, Pressekonferenz und Flugblätter usf.) und ein gemeinsames Vorgehen in den Verhandlungen mit den Behörden.

Die Basisgruppe Heim- und Lehrlingsarbeit legte außerdem noch ein detailliertes Konzept für Wohnkollektive mit Lehrlingen und entlaufenen Heimzöglingen vor, um die Behörden dazu zu bringen, zu konkreten Forderungen Stellung zu nehmen. Die Besetzung war damit geplant...

Nach einer Veranstaltung mit der Politrockband "Ton, Steine, Scherben" besetzten am 8. 12. 1971 rund 600 Jugendliche das Schwesternhaus des Bethanien-Komplexes. Die Initiativgruppen informierten die Öffentlichkeit über die Gründe und Ziele dieser Aktion und beschafften Matratzen, Leitern, Verpflegung und Autos, noch bevor die Polizei dort eintraf, um den weiteren Zustrom von Jugendlichen, die in das Haus wollten, zu verhindern.

Wie üblich wurde gegen die Manifesten mit Schlagstöcken, Hunden und Tränengas vorgegangen. Während des Polizeieinsatzes erschien der Jugendstadtrat Erwin Beck, der ein führender Exponent des Donnerstagskreises der Vereinigten Linken in der Berliner SPD ist und als Vertreter der marxistischen Minderheit für die gut begründeten Forderungen der Jugendlichen wohl Verständnis hatte. Jedenfalls veranlaßte er den Abzug der Polizei und ebnete damit den Weg zu weiteren Verhandlungen. Bereits zwei Tage später stellten sich über 3 500 Kreuzberger Bürger in einer Unterschriftenaktion hinter die Jugendlichen. Viele Anwohner unterstützten sie vor allem in den ersten Tagen mit großzügigen Geld- und Sachspenden.

Die Besatzer wählten den Namen "Georg von Rauch-Haus" zur Erinnerung an den laut PANORAMA und Rote Hilfe-Information Tage zuvor im Zusammenhang mit der Hatz auf die sogenannte Baader-Meinhof-Gruppe unschuldig von der Politischen Polizei erschossenen gleichnamigen Jugendlichen und verdeutlichten damit ihren politischen Anspruch, was natürlich keineswegs auf eine Solidarisierung mit den inzwischen verhafteten politischen Desperados hinausläuft, denn Georg von Rauch gehörte nicht zu diesen Leuten. Er war auch kein "Sympathisant" der B/M-Gruppe.

Die Gruppen lehnten in den Verhandlungen mit dem Bezirksamt die Kontrolle durch staatlich angestellte Sozialarbeiter, den Jugendstadtrat Beck und das Gesundheitsamt kategorisch ab. Sie konnten dennoch eine vorläufige Nutzungsvereinbarung durchsetzen, die zwischen dem Träger des Rauch-Haus, dem Jugendzentrum Kreuzberg e. V., und dem Bezirksamt abgeschlossen wurde und ein selbstverwaltetes Wohnkollektiv vorsieht, das sich aus 60 Lehrlingen, Schülern und ehemaligen Heimzöglingen zusammensetzt.

Das Kollektiv vertritt in Gesprächen mit Außenstehenden völlig zu Recht die Meinung, daß das G.-v.-R.-Haus kein sozialpädagogisches Experiment ist, das die Heime und Anstalten ersetzen soll, um im fortgeschrittenen Stadium die Sozialisationsarbeit, d. h. die Anpassung an die gesellschaftlichen Zwänge schmerzloser und wirkungsvoller zu vollziehen. Für diese Jugendlichen ist es ein Versuch, den Unterprivilegierten und hier vor allem den sozial Geschädigten ihrer Generationsgruppe die Möglichkeit zu geben, sich von ihrer sozialen Zwangssituation zu emanzipieren und kapitalistischen Interessen zu widersetzen. Diese allgemeine Zielsetzung des Kollektivs findet in der Praxis der Selbstverwaltung ihren adäquaten Ausdruck.

Die Jugendlichen berichten: "Wir verwalten unser Haus selbst. Alle Angelegenheiten regelt das Kollektiv in eigener Verantwortung. Hierzu findet zweimal wöchentlich ein Plenum statt. Einzelne Gruppen, u. a. Presse- und Wirtschaftsausschuß, machen die Arbeiten, die ihnen vom Plenum aufgetragen werden. Über ihre Arbeit müssen sie dem Plenum aller Hausbewohner berichten. Dort werden sie kritisiert und Verbesserungsvorschläge zur Diskussion gestellt. Dem Plenum sind alle Bewohner verantwortlich. Dort werden alle Beschlüsse gefaßt, z. B. zur Taktik bei Verhandlungen mit den Behörden, die für Anschaffungen und den Unterhalt notwendigen Gelder betreffend und bei Neuaufnahmen. Wer laufend gegen die Beschlüsse verstößt, kann ausgeschlossen werden. Bei der Aufnahme neuer Mitglieder wird beachtet, wieweit der einzelne das Kollektiv unterstützen kann. Erzieher werden nicht eingestellt. Einzelne Genossen, die nicht im Haus wohnen, werden zur Mitarbeit in den Projektgruppen aufgefordert, wenn sie wirklich helfen können. Hierzu gehören z. B. medizinische Hilfe, Rechtsberatung, Unterstützung bei Verhandlungen mit den Behörden und Konflikten mit der Schule etc. Die Erfahrung hat gezeigt, daß wir keine Autoritäten brauchen und einzelne Personen keine Macht über andere ausüben dürfen."

In den letzten Monaten wurden Anstrengungen unternommen, um dieses zukunftsweisende jugendeigene Projekt zu liquidieren. Solche radikaldemokratisch-sozialistischen Modelle sind aus der Sicht der Arbeiterbewegung sicher von allgemeinem gesellschaftlichen Interesse. Wenn es aber um den Ausbau persönlicher politischer Macht und damit um Kapitalinteressen geht, wird eben nichts unversucht gelassen, um die Jugend- und Arbeiterbewegung zu unterdrücken und zu verleumden. Zu diesem Zweck verbündete sich die Law and Order-Riege des ultrarechten SPD-Innensenators Kurt Neubauer wieder einmal mit der CDU und der Springer-Presse.

So wurde versucht, dem Kollektiv Diebstähle nachzuweisen, Ende Dezember 71 z. B. wurden aufgebrochene Autos auf das Gelände geschoben. Man behauptete, die Jugendlichen

hätten sie gestohlen. Merkwürdig war, daß ein Auto einem Polizisten gehörte. Verschiedene Einbrüche in der näheren Umgebung, darunter in das Hauptgebäude des Bethanienkomplexes und in eine Aral-Tankstelle, wurden dem Kollektiv angelastet. Alle Delikte, berichtete die BILD-ZEITUNG, stünden im Zusammenhang mit den Besetzern des ehemaligen "Martha-Maria-Hauses".

Die Springer-Presse behauptete weiter, die Jugendlichen hätten einen Vater brutal zusammengeschlagen, weil seine Tochter sich im Rauch-Haus aufhalten sollte. Die Richtigstellung des Vaters wurde von der BZ natürlich nie abgedruckt.

Im März d. J. standen dann schließlich auch zwei Hundertschaften der Bereitschaftspolizei vor dem Rauch-Haus, um ein seit Wochen vermißtes türkisches Mädchen angeblich abzuholen, das sich dort nicht aufgehalten hat. Es wurde später im Landwehrkanal gefunden. Die Polizei führte unter diesen Vorwänden eine erste Razzia durch, auf die weitere folgten. Neubauer wollte damit nicht nur dieses Projekt, sondern auch die Vereinigte Linke in der SPB um die sehr progressive Jugendsenatorin Ilse Reichel und Stadtrat Erwin Beck treffen. Am 20. 4., um 4.15 Uhr, kam es dann zu einer perfekten Notstandsübung der Polizei, von der weder Erwin Beck noch Ilse Reichel etwas wußten.

Rund 800 Polizisten besetzten das Bethanien-Gelände. Es gab einen großen Aufmarsch: einen riesigen Fuhrpark von Mannschaftswagen, Funkstreifenfahrzeuge und Zivilautos der Politischen Polizei, Feldküche und Krankenwagen. Mit Maschinenpistolen im Anschlag wurde das Haus umstellt. Jedes der rund 90 Zimmer wurde dann von bewaffneten Polizisten bewacht. Wer den Hausdurchsuchungsbefehl verlangte, wurde beiseite gestoßen. Man durchsuchte ohne Angabe von Gründen alle Räume und hinterließ sie in einem katastrophalen Zustand. Neben allen Kripodezernaten: Mord, Rauschgift, Einbruch, Sitte, politische Polizei und Gesundheitspolizei nahm auch die Hundestaffel und das Diskussionskommando der Gruppe 47 an dieser Nacht- und Nebelaktion teil. Außerdem waren noch sieben Staatsanwälte und ein Richter anwesend. In der Küche wurden Mülleimer geleert und anschließend von der Gesundheitspolizei fotografiert. Die Fotos, die in den Springer-Gazetten erschienen, sind nach dem Polizeieinsatz aufgenommen worden. Über den Hergang, Umfang und die Gründe des Polizeieinsatzes hatte man natürlich nicht informiert!!

In brutaler Manier wurden 28 Personen festgenommen und in vergitterten Wagen abtransportiert. Unter anderem wurde ein krankes Mädchen mit 39 Grad Fieber abgeführt, 12 Stunden in einer kalten Zelle festgehalten und ohne Behandlung anstrengenden Verhören unterzogen. Ein fünfzehnjähriger Junge, der eine Zigarette rauchen wollte, bezog Prügel. Für jeden Abgeführten standen auf den Revieren zwei Kripobeamte und zwei Uniformierte zur Verfügung. Für den Verdienstausfall wurden bezeichnenderweise keine Bescheinigungen ausgestellt. Quittungen gab es ebenfalls nicht.

Das Kollektiv vom Rauch-Haus erklärte verständlicherweise: "Dieses Vorgehen des Staates und der Polizei gegen Jugendliche, die nur ihre eigene Lebenspraxis selbst in die Hand nehmen wollen, rechtfertigt, daß wir von einem faschistischen Überfall der Polizei sprechen, einer Notstandsübung, die uns schon jetzt an noch härtere und schärfere Maßnahmen gewöhnen soll." Danach sollte das Rauch-Haus offenbar in ein Heim für Asoziale umgewandelt werden. Ohne mit den Jugendlichen vorher darüber zu reden, wurde in fünf Meter Entfernung um das Haus herum ein Stacheldraht gezogen, der 3000 DM kostete. Die Jugendlichen bauten ihn sofort wieder fachmännisch ab und gaben ihn ordnungsgemäß zurück. Das Kollektiv resümiert: "Jahrzehntelang haben es die staatlichen Jugendfürsorgeheime und -einrichtungen geschafft, die Jugendlichen kaputt und unmündig zu machen und ihnen keinen anderen Ausweg als die Flucht in die Kriminalität und den Drogenkonsum zu lassen. Jetzt, wo wir selber die Initiative ergriffen und etwas Besseres machen wollen, versuchen sie, uns durch Lügen kaputtzumachen, was wir in monatelanger Arbeit mühsam aufgebaut haben."

Die CDU, die sich ausnahmslos auf die Lügen der Springer-Presse stützte, stellte in der Kreuzberger Bezirksverordnetenversammlung und im Berliner Abgeordnetenhaus im Mai den Antrag auf Schließung des Rauch-Haus. Da sich die Jugendsenatorin Ilse Reichel ebenso wie der Bezirksstadtrat Erwin Beck vor das Projekt stellten, mußte der Vorstoß der rechten SPD und der CDU scheitern. Die sozialpädagogischen Gutachter setzten sich ebenfalls für die Jugendlichen ein. Der Sicherheitsausschuß des Berliner Abgeordnetenhauses konnte nichts Belastendes vorlegen. Alle Verdächtigungen waren wieder einmal aus der Luft gegriffen.

Rüdiger B. Barrasch und Eva Nolte verfassten im Auftrage der Jugendsenatorin eine "Chronologie und Einschätzung des sozialpädagogischen Projekts in Bethanien - Stand 27. Mai 72" (1) aus der wir einige Stellen zitieren wollen: "Wir sollten verhindern, daß Bethanien Heimcharakter annimmt. Das heißt z. B., daß man dem Anspruch auf Selbstorganisation der eigenen Lebenspraxis soweit zustimmt, daß die Kontrollfunktionen gänzlich hinter der Beratungsfunktion (im Sinne einer partizipierenden Diskussion) verschwinden (S. 6). Die Konsequenz überzeugt, mit der die Mitglieder des Kollektivs dem Gedanken der Selbstorganisation konkrete Gestalt verliehen haben. Es besteht berechtigte Hoffnung, daß sich die an den Prinzipien des Basisdemokratie orientierende Lebensform als lebensfähig erweist (S. 12)... Von allen Seiten angegriffen und pauschal diskriminiert, wurde auch an dem Projekt selbst wieder deutlich, daß es ohne einen Verbündeten, der im Establishment' verankert, einen größeren Vertrauenskredit genießt, noch nicht existenzfähig war. Die eindringlichen Schilderungen

der Jugendlichen und Berater des Polizeieinsatzes und seiner Auswirkungen ... veranlaßten Frau Senatorin Reichel, noch bevor detailliert Berichte der Polizei vorlagen, am selben Tag in einer Pressekonferenz unter Hinweis auf einige Daten ..., aus denen die erfolgreiche Arbeit des Projekts abzulesen war, die pauschale und vorschnelle Diskriminierung einer großen Gruppe von Jugendlichen zurückzuweisen (S. 14). Die positiven Ansätze sehen wir vor allem in:

- der zunehmenden Selbstorganisation der eigenen Lebenspraxis von einer zunächst chaotischen Ausgangslage; (Reduzierung von über 200 auf 60 Bewohner, Abwehr von Zuhälterkreisen und faschistischen Schlägergruppen);

- der Methode der Selbstorganisation, die vornehmlich darauf gerichtet ist, persönliche Probleme solidarisch im Kollektiv aufzuarbeiten. Durch diese kollektive Handlungsform wird dem einzelnen ein hohes Maß an Aktivität abgefordert;

- den Folgen der Selbstorganisation, die durch die vorausgesetzte, unmittelbare Beteiligung gewissermaßen im Zeitraffertempo Bewußtseinsprozesse und Änderungen von Verhaltensweisenbewirkt hat. Man kann geradezu von einem dynamischen Sog sprechen, der einzelne Jugendliche - auch nach kurzer Zeit der Mitwirkung im Kollektiv - von zunächst passiv-perspektivlosen zu kritischaktiven Teilnehmern am gesellschaftlichen Leben werden ließ;

- der konkreten Einlösung des Selbstorganisationsanspruches, indem auf eine laufende Förderung des Projektes verzichtet wurde und sich die Jugendlichen damit zugleich auferlegten, ihren Lebensunterhalt aus eigener Kraft zu bestreiten (S. 20)."

Eine differenzierte Analyse der politischen Landschaft würde dem Jugendkollektiv des Rauch-Haus zeigen, daß es Bündnispartner hat, mit denen eine kritische Zusammenarbeit von Fall zu Fall möglich und notwendig ist. Die Jugendsenatorin, die in Berlin leider nur Empfehlungen aussprechen kann und nicht in der Lage ist, den Bezirksämtern, die immer noch bürokratisch agieren, Anweisungen zu geben, gehört auf jeden Fall dazu. Ohne ihre Unterstützung wäre das Projekt gegescheitert. Es hätte die Angriffe der Rechten nicht allein abwehren können. Natürlich ist bei einer solchen Bündnispolitik grundsätzlich davon auszugehen, daß es keine totale Interessenidentität zwischen Jugendlichen und Verwaltung gibt und geben kann (S 2S)."

Durch die vom Kreuzberger Bezirksbürgermeister erteilte Aussagegenehmigung für die bis zum April im Rauch-Haus beschäftigten Sozialarbeiter kam es unlängst zu einer neuen Vertrauenskrise, die wieder auf Neubauers Konto geht, da dieser offenbar über die politische Polizei die Jugendlichen und die Sozialarbeiter auseinanderdividieren wollte. Ilse Reichel tritt zwar ebenfalls für eine "gesetzlich verankerte Schweigepflicht gegenüber Organen der Justiz und der Polizei auch für sozialpädagogische Berufe im Interesse der Klienten und Mitarbeiter ein; allein sie existiert noch nicht und so bleibt nur ein Handeln innerhalb des Ermessensspielraumes der zur Zeit kodifizierten Normen (S. 23) möglich." Die Senatsverwaltung für Jugend und Sport verlangt vom Kollektiv: 1. die Fortdauer der Nutzungsvereinbarung; 2. maximal 60 Bewohner; 3. das Anstreben schnellstmöglicher Legalisierung (polizeiliche Anmeldung, Arbeitsplatzbeschaffung etc.); 4. eine Aufnahmeuntersuchung der Jugendlichen durch Ärzte ihres Vertrauens; 5. statistische Informationen über die Struktur und Zusammensetzung und Berichte über die Entwicklung des Kollektivs in bestimmten Abständen durch die Jugendlichen selbst oder Gutachter ihres Vertrauens.

Bis auf den letzten Punkt scheinen sich Ilse Reichel und das Jugendkollektiv soweit einig zu sein. Die Jugendlichen betonen immer wieder in Gesprächen, sie seien kein sozialpädagogisches Experiment, sondern normale junge Menschen, die in einer großen Wohngemeinschaft neue Formen des Zusammenlebens realisieren. Sie sind der Auffassung, der man nur zustimmen kann, daß zuerst die Bevölkerung über ihr Projekt informiert werden muß und dann erst - in diesem Zusammenhang! - der Senator für Jugend und Sport (2).

Die Jugendlichen werden mit weiteren Schwierigkeiten rechnen müssen. Die Reaktion wird immer wieder neue Vorwände suchen, um über das Rauch-Haus herzufallen. Wer wirklich für die Demokratisierung dieser Gesellschaft ist, muß für die Emanzipation dieser v[?] überhaupt der Jugendlichen sein. Daran wird man messen können, wer für die Jugend als Bündnispartner in Frage kommt und wer nicht.
1} Chronologie und Einschätzung des sozialpädagogischen Projektes in Bethanien - Stand 27. Mai 1972 über Pressestelle des Senators für Jugend und Sport, 1 Berlin 30, Am Karlsbad 8
2) Dokumentation des Georg von Rauch-Haus erhältlich über das Jugendzentrum Kreuzberg 1 Berlin 61, Mariannenplatz 1, oder die Buchhandlung Karin Röhrbein, 1 Berlin 12, Savignyplatz gegen Voreinsendung von DM 5, -


Der Tagesspiegel am Freitag, dem 1.12.1972
Seite 14
Autor: nicht benannt

6000 Katapulte in zwei Wohngemeinschaften

Bei einer Kontrolle von zwei Gemeinschaftswohnungen am Tempelhofer Ufer entdeckte die Polizei am Mittwochabend 6000 fabrikmäßig hergestellte Katapulte. Elf junge Männer und zwei Mädchen, die in den Räumen anwesend waren, werden vorübergehend zur Feststellung der Personalien zum Polizeirevier mitgenommen. Sie behaupteten, die Katapulte zusammen mit Schallplatten als Werbegeschenk verteilen zu wollen. Anwohner hatten die Polizei alarmiert, als aus diesen beiden Gemeinschaftswohnungen mit einem Katapult geschossen worden war.
Anmerkungen

Die besagten Katapulte dienten als Beilage zu der Ton Steine Scherben LP "Keine Macht für Niemand", die 1972 erschien. Katapulte deshalb, weil das Logo der eigens von den Scherben gegründeten Plattenproduktion "David Volksmund Produktion" eine Hand mit Katapult war. Von 10.000 gekauften Katapulten blieben die 6000 übrig.


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