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Kapitel 9: "Georg’s Tod"

(von Bommi Baumann)

Die Texte stammen von der Seite:

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Beim Umfallen wußte ich: Jetzt ist er hin - Es werden keine Gefangenen mehr gemacht - Ein Anarchist, der im Kampf gefallen ist - Wieder In der Fabrikhalle?

Ich möchte noch einmal auf dieses Spiegel-Interview eingehen, weil mir das sehr viele Leute übelgenommen haben. Die Linke, die hat es mir übelgenommen, was ich da gesagt habe. Im Spiegel Nr. 1, 1974, war unter dem Titel »Freunde, schmeißt die Knarre weg« unter anderem folgendes zu lesen:
Spiegel: Haben Sie eine Pistole in der Tasche?
Baumann: Ich trage schon seit anderthalb Jahren keine Waffe mehr. Seitdem fühle ich mich wohler, freier. Eine Waffe kann dein ärgster Feind werden.
Spiegel: In einem Poem, das Sie verfaßt haben, sagen Sie es so: »Ich habe die Waffe abgelegt, Freunde, weil ich zu der Erkenntnis gekommen bin, daß nicht Haß deine Triebfeder ist, sondern daß Liebe meine Triebfeder ist.« Das klingt fast ein bißchen kitschig für einen Anarchisten. (...)
Spiegel: Hatten Sie Angst?
Baumann: Angst? Eher Abenteuerlust, ich empfand den Reiz, den gefährliche Erfahrungen haben können. Man hat ja Angst nie total erlebt.
Spiegel: War das für Sie Volkskrieg?
Baumann: So pathetisch haben wir es nicht gesehen. Eigentlich war es lustig. Wir haben über unsere Kostümierung viel gelacht. Ich sah aus wie ein Comic-Clown.
Spiegel: Auf der Strecke, an der Sie gewirkt haben, gibt es zwei Tote: den Bootsbauer Beelitz, der durch eine von Ihnen mitgebaute Bombe ums Leben gekommen ist, und Georg von Rauch, den West-Berliner Polizei in der Eisenacher Straße erschossen hat, in Ihrer Gegenwart.
Baumann: Das sind Schlußpunkte. Das sind Tote, die einen zur Einsicht bringen. Bei Beelitz kam das Entsetzen. Bei Georg von Rauch noch einmal Haß. Wenn Sie den neben sich umfallen sehen, den sehen Sie ziemlich lange umfallen.
Spiegel: Sieht man ihn auch vorher umfallen?
Baumann: Die Möglichkeit hat man gesehen, ja, ja.
Spiegel: Wer hat in der Eisenacher Straße zuerst geschossen?
Baumann: Klar Georg, aber geschossen wurde fast gleichzeitig.
Spiegel: Wann haben Sie geschossen?
Baumann: Wenn Sie es knallen hören, schießen Sie automatisch zurück, das ist logisch.
Spiegel: Und nun? »Bommi«, der Bombenleger, ist passe?
Baumann: Ich bin wieder da angelangt, wo ich aufgebrochen bin, und ich fühle mich immer noch als Teil einer Bewegung, die das Glück außerhalb dieser Gesellschaft sucht, auf anderen Wegen, in einem großen Strom. Seht her, der reuige Sohn kehrt zurück? Das wird es nicht geben.
Spiegel: Sie wollen sich nicht der Polizei stellen?
Baumann: Nein, auf keinen Fall. Warum auch? Ich habe schon einmal im Gefängnis gesessen, achtzehn Monate; die Erfahrung muß ich nicht erst noch machen. Und meine Probleme nehmen die mir da auch nicht ab. Wenn du dir das alles eine Weile von weitem in Ruhe ansiehst, dann kriegst du eben ein ganz anderes Weltbild. Wenn du nicht mehr der Blindgänger bist, wartet für dich der Fährmann, der dich ans andere Ufer bringt.
Spiegel: Garten Eden im Untergrund? Wo soll’s denn hingehen?
Baumann: Es gibt konkrete Alternativen. Meine Alternative kann ich Ihnen nicht nennen; dann wär’s keine mehr.

Georg von RauchSo weit das Interview. Heute muß ich sagen, daß ich nicht mehr weiß, wer die Knarre zuerst gezogen hat. Ich glaubte, eswar Georg, aber nach dem ganzen Durcheinander kann ich mich nicht mehr richtig erinnern. Aber eines find ich auf jeden Fall Scheiße, nämlich, daß die Linke einfach davon ausgeht, Georg hätte überhaupt nicht gezogen. Die Linke hat aus ihm einen christlichen Märtyrer gemacht. Ein richtiger christlicher Humanitätstrip rollt da ab. Der Typ war er nicht, er war genau der Typ, der gesagt hat: »Klar, wir schießen!« Wir haben die Knarre dabeigehabt, damit wir nicht mehr verhaftet werden. Darum haben wir die Dinger eingesteckt, nicht daß wir mit erhobenen Händen dastehen und uns der Reihe nach umschießen lassen. Darum genau ging es nicht. Das war schon die Situation, in der die Bullen längst auf jeden geschossen haben. Über diese Baader-Meinhof-Geschichten war das Klima bei den Bullen so verschärft, daß sie immer wußten, wir sind bewaffnet, es wird geschossen.

Urbach hatte uns schon früher einmal Waffen gegeben. Der Verfassungsschutz hat Waffen geliefert, mit denen Polizisten umgeschossen werden. Das ist die Situation in Deutschland. Das ist schon sehr verworren. Das haben wir im Grunde nicht mehr voll überzogen. Wir haben nicht mehr gesehen, daß wir da im Räderwerk ein paar Marionetten sind. Wenn sie uns selber die Waffen in die Hand drücken, haben sie ein großes Interesse daran, daß sie auch benutzt werden. Darüber ist noch nie nachgedacht worden; von niemandem, außer von Gruppen, die uns kritisieren, wir heizen den Faschismus an, um ihren eigenen Trip zu rationalisieren.

So ein Mann wie Nollau hat schon 1966 gesagt, die Aufgabe des Verfassungsschutzes sei es alle maoistischen Gruppen zu unterstützen. Sie drücken uns die Waffen in die Hand, damit wir ihre eigenen Leute abballern können. Es ist mir heute noch nicht richtig klar, welche Rolle man in dem Spiel spielt. Aber das sieht anders aus, als eine eigenständige revolutionäre Bewegung. Irgendwo sind die Bullen sehr interessiert, daß wir es ja auch machen. Das sollte man weiter verfolgen. Ich habe dazu keine konkrete Antwort, sonst würde ich sie geben, aber darüber sollten wir alle nachdenken.

Was an dem Tag, an dem Georg starb, geschah, das war unser Fehler. Es war Großfahndung, genau den Tag davor, auch wegen der ewigen Banken. Überall sind unsere geklauten Autos aufgeflogen, und von der RAF waren gerade zwanzig Pakete voll MP’s und Bomben in einer Wohnung aufgeflogen. In dem Augenblick haben sie die Großfahndung ausgerufen, haben Berlin hermetisch abgeriegelt, alle Zufahrtsstraßen, Flughäfen, Bahnhöfe und die gesamte Sicherheitsgruppe eingeflogen. Alle Straßen waren zu.

Wir haben es nachts erfahren und haben uns schlafen gelegt, sind nachmittags aufgestanden, haben ein paar Grasjoints durchgezogen, und dabei sagt Georg plötzlich: »Au, wir haben da noch ein Auto stehen, so einen Fordbus, den müssen wir noch umstellen, damit sie den nicht kriegen.« Die haben ein anderes Schloß und sind schwerer zu klauen als andere Autos. Den Ford brauchten wir immer wieder, das war unser wichtigstes Auto. Mit ihm transportierten wir immer alle Sachen. Wir haben es nicht begriffen, daß es in der Situation Wahnsinn war, dieses Auto verschwinden zu lassen. Wir gingen sofort aus der Wohnung, fuhren hin und stiegen in diesen Scheiß-Fordbus.

Es war ’ne Doublette, also ein geklautes Auto, das mit einem Nummernschild eines legalen Autos desselben Typs ausgerüstet ist. Auch so ein Wahnsinn, mit dem du auf den Apparat einsteigst. Es ist eigentlich Irrsinn, als illegale Gruppe in Berlin überhaupt Autos zu benutzen. Nur bei Aktionen für irgendeine Fluchtgeschichte, sonst nie, sonst immer U-Bahn, Bus zu Fuß, Taxe, nie ein Auto benutzen. Das haben wir nie überzogen.

Wenn du Doubletten machst, ist es ein Punkt, wo sie immer besser sind, weil sie die größten technischen Mittel haben. Sie können dich immer aufspüren über diese Geschichten. Es wird einfach gesagt, da ist ein Auto gestohlen worden, und dann fahren sie rum, weil sie wissen, es werden immer die Nummernschilder doppelt gemacht, notieren einfach alle doppelten Nummern.

Der Originalbus hatte eine Aufschrift und der, den wir hatten, hatte keine Aufschrift. Er stand am Winterfeldtplatz und war natürlich prompt aufgefallen. Den hatte dieser Mensch entdeckt, der schon tausend gestohlene Autos in Berlin gefunden hat, ein Mann, der immer bei der BZ-Fahndung mitmacht. Er hat gesehen, die Nummer ist doppelt. Bei jedem Auto, das in Frage kam, stand in diesen Stunden ein Polizist. Die Großfahndung lief gerade 24 Stunden – überall unsere Fotos, im Fernsehen, in jeder Nachrichtensendung, in der Abendschau; das ging ununterbrochen; die ganze Stadt war hysterisch gemacht worden – erst ein Tag stille Fahndung und dann große, öffentliche Fahndung.

Wir steigen also ein und als wir den Wagen in der Eisenacher Straße einparken, hält uns plötzlich ein Zivilbulle seine Knarre unter die Nase. Wir müssen uns an die Wand stellen. Als der Bulle einen Moment abgelenkt ist, gibt es eine irrsinnige Schießerei.

Dann sind wir losgerannt. Sie haben uns erst mal noch drei Stunden durch Berlin gehetzt mit Hunden und Autos und tatütata. Wir sind zu Fuß gerannt, den ganzen Kudamm runter, immer Bullen um uns rum, aber Hare Krishna wird uns retten! Wir rennen auf das Kranzlereck zu und da sehen wir schon, wie die anfangen, das Kranzlereck zuzumachen, also bauen einfach den Kudamm zu in dem Augenblick, stellen lauter VW-Busse quer und springen raus mit den MP’s. Wir kommen gerade an, als wir überlegen, wo wir jetzt hinrennen, hält uns so ein ganzer Trupp Hare Krishna-Mönche an und sagt »Hare Krishna« und will uns Broschüren verkaufen. Ich sage: »Alter, laß mich los, ich schlage dich um, bist du wahnsinnig.« Hinter uns waren sie ja auch. Die Hare Krishnas halten uns so ungefähr eine Minute auf, vor dem Kaufhaus Wertheim, kurz vor dem Kranzlereck und machen die Kreuzung wieder frei, und wir rennen weiter. Schließlich haben wir uns in ein paar Wohnungen versteckt und sind dann abgehauen.

Die Flucht war dadurch heikel, weil die Bullen nicht durch den Funk gegeben hatten, daß Georg erschossen worden ist, sondern ein Kollege von ihnen. Da kam sofort durch: nicht mehr verhaften. Das heißt, es werden gar keine Gefangenen mehr gemacht. Wenn sie dich kriegen, legen sie dich um. Das hatten wir über Polizeifunk in den Wohnungen mitgehört.

Wir waren in Wohnungen geflüchtet, in denen die Bewohner anwesend waren. Da ziehst du Leute mit in den absoluten Strudel der Gewalt. Die kommen in die Gefahr mitumgelegt zu werden. Du gefährdest nicht nur dich, denn es wird dann wahllos zugeschlagen.

Man kann es natürlich draufankommen lassen und sagen: Wenn Unschuldigen etwas geschieht, werden sich noch mehr Leute empören, und die Empörung ist gerade eins der wichtigsten revolutionären Momente. Die Fähigkeit, sich zu empören, macht nach Bakunin den Menschen zum Menschen. Andererseits: Wenn du dir den Weg freischießt und Tote hinter dir läßt, ist das noch schlimmer.

Dazu ist zu sagen: Wir müssen hier nicht einen christlichen Märtyrer aufbauen. Wir haben gesagt, wir nehmen die Waffe in die Hand und rennen gegen dieses System an und schießen klar zuerst. Darum stecken wir die Dinger ein. Wenn wir in der Situation sind, schießen wir, logisch. Der Bruder ist im Kampf gefallen, für die Sache, für die die Leute mit den roten Fahnen alle auf die Straße gehen. Dafür ist Georg im Kampf gefallen, mit der Waffe in der Hand. Als Kämpfer sollte man ihn sehen und nicht als christlichen Märtyrer. Man sollte ihn so sehen, wie er war: Ein Anarchist, der im Kampf gefallen ist, der konsequent bis zum Schluß gegangen ist. Das ist natürlich in diesem Scheiß-Spiegel-Interview nicht rausgekommen, weil sie es irrsinnig gekürzt haben, Um mehr geht es mir nicht, als das zu sagen.

Nach Georg’s Tod war ich völlig fertig, weil ich mit ihm zusammen die ganzen Sachen angefangen hatte, zu ihm immer die stärkste Beziehung hatte und mit ihm zusammen war die ganzen Jahre. Ich habe ihn richtig neben mir umfallen sehen, im selben Augenblick wußte ich auch, er ist tot. Beim Umfallen wußte ich: Jetzt ist er hin. Es hat erst mal ’ne Woche gedauert, eh ich wieder was gegessen habe oder geschlafen habe. Es hat echt ’ne Woche gedauert, bis ich wieder klar durchgeblickt habe. Ich war echt am Ausflippen, ich war stellenweise richtig weggetreten und habe überhaupt nicht mehr durchgeblickt.

Am Verhalten der anderen Leute habe ich damals gesehen, daß da überhaupt keine Wärme mehr war. Keiner hat mich in meiner Situation eigentlich verstanden, und niemand ist mehr darauf eingegangen. Ich mußte mir sagen lassen, jetzt ist euer bester Mann weg, ist doch eure eigene Schuld. Da weißt du schon nicht mehr, was du machen sollst. Du siehst, daß der Tod von deinem Brother genauso hingenommen wird, wie ihn die Springer-Presse hinstellt. Niemand geht noch von der menschlichen Seite heran, wie es in so einer Situation angebracht wäre. Höchstens daß sie sagen »die Schweine, wir müssen Rache nehmen« – mehr ist nicht. Weil Georg als Märtyrer aufgebaut wurde, ist nicht einmal mehr das Moment der Rache richtig rausgekommen, nur noch dieses Bemitleiden.

Das war die erste Geschichte, die mich dazu gebracht hat, darüber nachzudenken, ob das Ganze nicht langsam Formen angenommen hat, die nichts mehr mit den ursprünglichen Geschichten zu tun haben, weder etwas mit den Kommunengeschichten noch mit unseren Dropouts in den sechziger Jahren, noch mit dem Blues und den Haschrebellen, nichts mit der neuen Sensibilität und Zärtlichkeit und einem Verstehen, einem Eingehen auf den anderen. Damit hat das alles nichts mehr zu tun. Es wird immer irrer, es wird immer mehr zur Siemensfabrikhalle, das ganze Geschehen. Obwohl es die ganze Zeit darum ging, daß du von Siemens wegkommst, auf einmal bist du genau wieder dort angekommen. Du stehst mit kurzen Haaren, mit Anzug da, wo du hergekommen bist, und die Leute drumherum reagieren auch genauso. Sie sind genauso abgebrüht wie gehabt. Du hast dich abgestrampelt all die Jahre und hast alles gemacht, aber auf einmal bist du genau da wieder angekommen. Damals ging es los, daß ich immer weniger einen Sinn in dieser Form von Bewaffnetem Kampf gesehen habe. Ich habe eigentlich wegen Georg mitgemacht, weil ich wußte, er will die Sachen machen. Und ich wollte ihn nicht alleine lassen. Drei Tage nach seinem Tod haben Jugendliche in Kreuzberg ein Haus besetzt und es Georg von Rauch-Haus genannt. Das waren die einzigen Leute, die darauf noch adäquat eingestiegen sind.
Anmerkungen
Günther Nollau war von 1972 bis 1975 Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz in Köln.
Das Rauch-Haus existiert noch heute, inzwischen allerdings als vom Berliner Senat gefördertes sozialpädagogisches Sonderprojekt für randständige Jugendliche.

Der Text ist identisch mit dem 9. Kapitel des Buches "Wie alles anfing" von Bommi Baumann, erschienen zuerst 1975 im Trikont-Verlag. Diese Auszüge stammen aus dem Buch vom Rotbuch Verlag, 1991, ISBN 3880220611.
Das erwähnte Rauch-Haus wird von Ton Steine Scherben in dem gleichnamigen Song besungen.