Kunst an der Mauer von Elaine Scarry

Besonders an einem regnerischen Wintertag war die Mauer in Kreuzberg das Leuchtendste in Berlin. Breite Farbbahnen -etwas über drei Meter hoch und zwischen einem und sieben Meter breit- verlaufen von der Waldemarstraße und davor bis Mariannenkirche und weiter. Die fortlaufende Bilderfolge verleiht der Mauer etwas rührend Prahlerisches wie bei einem Kind, das auf einem neuen Fahrrad oder einer hohen Mauer balanciert: Guck mal, schau mich an! Unablässig zeigt sich die bemalte Mauer her, gibt Signale und ruft. Ihr schnodderiges Leuchten, das ist ihre Weigerung, sich verdecken zu lassen, ihre Betonoberfläche mit dem graubraunen Mauerwerk der umliegenden Häuser, die sie trennt verschmelzen zu lassen. Und doch scheint die Farbe die harte Oberfläche, auf der sie haftet, aufzulösen, als ob die satten Farbtöne ins innere sickerten und sie zum verschwinden brächten.

Wie alle Kunst sind die Bilder an der Mauer gegen die Wirklichkeit. Sie wollen die Mauer transparent machen. Sie versuchen, die Oberfläche, auf der sie dargestellt sind zu lockern. Auf der gesamten Länge von hundertvierundsechzig Kilometern machen sie mit Skizzen und Kritzeleien kenntlich, wie porös die Mauer ist. Umrisse von Fäusten stoßen unablässig durch Umrisse von Löchern, und gemalte Stufen führen nach oben zu aufschwingenden Türen.

Die virtuosen Kreuzberger Mauerbilder von Thierry Noir, sind jedoch nicht nur eine Übung in Transparenz, sondern auch ein brillantes Manifest des grundlegenden Dranges nach Belebung.
Wäre die Mauer eine Schnur und wären die Kreuzberger Mauerbilder Perlen, dann hinge in der Mitte wohl das Arbeitsmedaillon. Innerhalb der unregelmäßigen roten Konturen wird die unbewegliche Mauer zu einem beweglichen, nach allen vier Seiten gerafften roten Vorhang, hinter dem auf leuchtendblauem Grund "die Gebrüder Arbeit" dargestellt sind.

Auf den ersten Blick scheinen sie zu lächeln, zu winken, hochzuhüpfen. Und wenn sie nicht hüpfen, sind sie zumindest doch in einen selbstverzückten Schwebezustand versetzt. Hinter der echten Mauer (man kann es sehen, wenn man die fünfzehn Stufen am Aussichtsturm in der Nähe hinaufsteigt) gibt es kein leuchtend blaues Feld mit strahlenden, winkenden Leuten, nur die tote, von braun rosa Erde bedeckte ebene Fläche und den weißen Beton der zweite Mauer. Sobald man wieder der Raum hinter dem Vorhang jedoch einen Augenblick lang offen, blau, voll und lebendig.

Indem sie Lebendigkeit mimen, heben die winkenden Gebrüder Arbeit die Mauer hoch und verraten dann, wie dieser Zaubertrick zustande kommt.

Sie versuchen nicht nur, die Mauer lebendig, sondern auch, diesen Vorhang nachvollziehbar zu machen. Ihren Körpern gelingt mühelos das Wechselspiel zwischen belebtem und leblosem Zustand.
Der linke Arm der ersten Figur wird zu einem Rechen, der linke Arm der zweiten zu einer Sichel, der linke Arm der dritten zu einem Hammer. Ihre rechten Arme verwandeln sich in Blöcke aus Rohmaterial, die mit diesen Werkzeugen bearbeitet werden können -Steinbrocken, die man neu formen, oder Mauerplatten, die man zerbrechen und vollschreiben kann.
Zu ihren Werkzeugen gehören nicht nur Rechen und Hammer, sondern auch Wortteile (ar, be, it und ein freischwebender Pfeil), und der unangestrengte Lauf geistiger Traum und Denkarbeit wird durch den riesigen afrikanischen Kopf, der wachsam-träumerisch daneben schwebt, noch verstärkt.
Obwohl uns die Gebrüder Arbeit überragen, sind sie einen Augenblick lang nun selbst verkleinert.

Im Arbeitsmedaillon geht es um Sensibilität. Bei den beiden äußeren Arbeiterfiguren liegen die Sinne jeweils nur auf einer Seite. Der eine, Jürgen, kann nur auf dem rechten Ohr hören; der andere, Ralf, hört nur, was von links kommt.

Die zweiohrige, androgyne Sibylle dazwischen hört auf beiden Seiten und stellt so die Symmetrie der Sinne wieder her. In der Ikonographie der Berliner Mauerbilder ersetzt das, was den Raum in "der Mitte" einnimmt, gewöhnlich die Mauer als Vermittlungstopos. Bei diesem Bild wird die hohe Sensibilität des mittleren Arbeiters zu dieser neuen, vermittelnden Form.

Zum ersten kontrafaktischen Aspekt -die Mauer transparent zu machen- kommt also ein weiterer kontrafaktischer Aspekt -die Mauer lebendig zu machen-. Diesen Bogen von Transparenz zu Lebendigkeit könnte man als Arbeitszauberei oder Arbeitsschwebezustand bezeichnen; er taucht in zahlreichen anderen Kreuzberger Mauerbildern wieder auf.

Ein paar hundert Meter weiter erhebt sich ein großer, blau-rot-gelber Elefant gegen einen blaugrün Hintergrund. Der Elefant stellt in seiner plumpen Körperlichkeit die problematische Unbeweglichkeit der Mauer dar. Er zeigt aber auch, wie sie sich wegheben läßt, diesmal nicht durch Türen, Fenster oder Vorhänge, sondern durch die großen Puzzle Teile seines Körpers, die mit ihren scharfen Umrissen zum Herausheben geradezu einladen.

Dieses Spiel mit der Durchlässigkeit führt uns ins Innere des Elefanten. In Körper und Gehirn befindet sich jeweils ein heller, offener Fleck. Im einer ist ein großer Schlüssel, im anderen ein großes Auge. Durch ihre optische Gleichwertigkeit werden Schlüssel und Auge zu austauschbaren Teilen beim Zusammensetzen und Auseinandernehmen, das hier angeregt wird: Der Zutritt gewährende Schlüssel symbolisiert Sensibilität. Am lebenden Körper sind die Sinne ungleichmäßig verteilt.
Die meisten Sinnesorgane befinden sich auf der kleinen Fläche von Kopf und Gesicht. Die Gebrüder Arbeit selbst wären simple Klotzköpfe (ihre Gesichter haben die gleiche Form wie die Betonblöcke ihrer rechten Händen), wenn sich nicht all ihre Sinne gerade dort konzentrierten.

Da die Kreuzberger Mauerbilder sich mit Sensibilisierung beschäftigen, befassen sie sich mit dem menschlichen Kopf. Eine gelungene Serie von Bildern -jedes stellt eine Gruppe von Köpfen dar- taucht in unregelmäßigen Abständen auf.

Im ersten, an der Waldemarstraße erheben sich sechzehn graue Steinköpfen vor rotem Hintergrund. Trotz ihrer Steinfarben scheinen sie hochsensibel zu sein. Die Augen stehen bei allen übertrieben aufgerissen über vorstehenden Nasen und Lippen, die sich in eigenartigen Varianten der Welt entgegenstülpen.

Eine unumwunden Aufforderung zur Sensibilisierung. Es ist doch einfach schön, wenn der verblüffte Engel in Win Wenders'"Himmel über Berlin" plötzlich alles in Farbe sieht. Es passiert hier genau vor dem Bild von Thierry Noir an der Waldemarstraße. Der Zauberbogen von der Transparenz zur Sensibilität -er verschwindet! nein, er entsteht!- bildet die sichbare Bewegung in den fünf Gruppenbildern. Kleine, schwarze Fenster sind hier und da in das Bild an der Waldemarstraße eingeschoben ergeben gemalte Öffnungen in der Mauer.

Hier wurde der Beton entfernt und durch lebendiges ersetzt: In jeder Öffnung sitzt ein gelber, rosa oder blauer Kopf. Der gleiche Bogen -ein Fenster in der Mauer und ein Gesicht im Fenster- taucht in einem hellen korallenroten Bild hundert Meter weiter wieder auf. In großen schwarzen Öffnungen im korallenrot sitzen große Köpfe, einige marineblau, einige schneeweiß und einige korallenrot wie die bemalte Mauer dahinter.

Der passende Korallenton von Kopf und Mauer deutet auf die Verbindung zwischen den beiden hin. Bisweilen ist das korallenrot Gesicht nicht einmal ganz ausgeformt, sondern besteht lediglich aus einem Block mit ein oder zwei Öffnungen für die Sinnesorgane. Wie schon den Klotzköpfen des Arbeitsmedaillons und bei den grauen Steinköpfen des Bildes an der Waldemarstraße verwandelt sich vor unseren Augen, Stein in Lebendigkeit.

Es ist dieser Schwung in den Bildern, der die Mauer so lebendig macht, ihre leuchtende Beweglichkeit, das rasch Fließende ihrer Linien und Formen. Über den lustigen Köpfen auf dem Bild an der Waldemarstraße stehen folgende Worte gekritzelt: "Fast Form Manifest", ein Satz, den Thierry Noir erfunden hat, um die Kreuzberger Schule des Malens zu umreißen, Malerei, die schnell passieren muß und bei der sich die Schnelligkeit in den Strukturmerkmalen des Bildes offenbart "Deux idees, trois couleurs, vite."Die rasch hingeworfenen Linien verleihen den Bildern ein frisches, spontanes Aussehen. Mal doch! Schnell, da kommt jemand! Schnell! Es ist verboten, die Mauer zu bemalen.

Obwohl ihre Oberfläche nach West-Berlin zeigt, ist sie die Eigentum des Ostens und wird von ihm kontrolliert.
Früher stiegen die Soldaten manchmal mit Leitern von der anderen Seite herüber. Das plötzliche Klicken auf den Sprossen beim Herabklettern gab aber den Malern, die unten an der Arbeit waren, ein Warnsignal.

Inzwischen wurden ein paar kleine Türen ebenerdig in der Mauer angebracht. Wenn eine davon aufgeht und die Soldaten durchkommen, dann es ist als seien die Gebrüder Arbeit unverhofft zum Leben erwacht und von der Bildfläche gestiegen, auf der sie vorher Lebendigkeit lediglich mimten. Ein paar Sekunden -bevor verhaftet und abgeschrubbt wird- verwirklicht sich der kontrafaktische Aspekt tatsächlich. Es ist den Malern gelungen, die Mauer wirklich transparent und lebendig zu machen: Keine gemalten Löcher, sondern echte öffnen sich in der gefühllosen Oberfläche, und leibhaftige Menschen kommen hervor.

Die Darstellung von Lebendigkeit -das Atmen und seufzen der Mauer- ruht aber im Stein selbst. "Fast Form Manifest" bedeutet: "Auf dem Sprung Sein." Die Umrisse und Linien erinnern an die gekonnte rasche Bewegung, die den Rist am Fuß eines Läufers anzeigen.

Die großflächigen Kreuzberger Bilder sind kompromißlos gutmütig und vor Aufregung ganz gespannt. Auf ihren großen Farbflächen tragen sie die Wachsamkeit des Malers. Helle Nervenspitzen schimmern unter der Farbe auf der Mauer durch wie Nerven, die über die seidigen Flanken eines großen Tieres zittern, oder wie Wind, der am unteren Rand einer Fahne oder eines Segels entlangstreicht. Rand an Rand bilden die großen Farbflächen ein Streifenmuster an der Mauer gleich einem riesigen Licht oder Klangspektrum und verwandeln sie von einem stumpfsinnigen Gegenstand in ein atmosphärisches Bild, das von Stimmen und Leben nur so bebt.
Die dreisprachige Mauer summt und witzelt immerzu. Sie witzelt über ihre eigene "Schlagfertigkeit", denn Schlagfertigkeit ist eine Variante von Schnellsein. Manchmal schreit sie und singt, und immerzu redet sie. Sie wechselt mühelos zwischen Deutsch, Englisch und Französisch hin und her und driftet ab in viele andere Sprachen, die sie gelegentlich fließend beherrscht.

Die Aspekte der Transparenz und Sensibilität -der Wunsch, einen unüberwindbaren Gegenstand zu überwinden und eine gefühllose Oberfläche sensibel zu machen- werden immer begleitet von dem dritten Aspekt, einem stummen Gegenstand Sprache verleihen zu wollen.

Nicht nur in Kreuzberg, sondern auf der gesamten Länge der Mauer gehören diese drei Aspekte unbedingt zusammen, am Brandenburger Tor zum Beispiel bildet das Gegenüber von riesiger Mauer und riesigem Tor den steingewordenen Inbegriff für Unüberwindlichkeit und Überschreiten, ein erstarrtes Klagelied auf das Recht, zu kommen und zu gehen, konkreter Anlaß für Konsens im gesamten westlichen politischen Denken, daß offene Grenzen notwendig seien.
Die Bewegungsfreiheit steht auf dem Spiel, das Ein und Ausgehen, das für Plato, Grotius, Locke und Rousseau den Gesellschaftsvertrag konstituiert, nach dem die Menschheit sich richtet.
Außerdem geht es bei der Bewegungsfreiheit um erfahrbare Lebendigkeit. Die Zusammengehörigkeit von Bewegung und Gefühl werden sichtbar in den handgeschriebenen Worten an der Mauer beim Brandenburger Tor:

On ne sent ses chaines que lorsqu'on bouge. R.Luxemburg.

Weil man seine Fesseln erst spürt, wenn man sich bewegt, wird dieses Gefühl zum Zeichen, daß Bewegung (und die Loslösung der Fesseln) eingesetzt hat. Die Inschrift vollzieht ihre eigene Aufforderung zu sensibler Bewegung, indem sie verbale Bewegung an die Stelle der unterbrochenen physischen Bewegung treten läßt.
Die Vorderseiten der Mauer am Brandenburger Tor ist, obwohl weniger orakelhaft als die Nordseite, übersät mit Sprüchen, mit den jugendlichen Stimmen von Reisenden und Touristen, die ihrerseits in Bewegung sind und den Stillstand hier besonders kraß spüren.

Wie eine überdimensionale Bauchrednerpuppe darf sie vielstimmig viele Sätze sagen. Da sind Liebeserklärungen: "Ich liebe dich, Mischa!", "Ich liebe dich, Marie!"
Die Mauer hat auch eine Art promiskuöser Zuneigung für viele Leute und unendliches Interesse, die Gefühle anderer mitzuteilen: "Richard loves Debbie" Und dann Freundschaftsbezeugungen, das Aufzählen der Namen von Freunden: "Rachel, Anna, Mike". "Kevin, Becky, Mairi", und schließlich als letztes der fröhliche Gruß: "Salut Veronika".

Der Gruß ist der Oberbegriff: Liebeserklärung und Auflisten von Freunden sind Grußvariationen. Bei den Kreuzberger Bildern werden die unbewußten Verbindungen zwischen den dreien offensichtlich. Alle drei verkörpern das Prinzip der Brüderlichkeit, und deshalb überrascht es auch nicht, daß die Gebrüder Arbeit die volle Bedeutung dieses wiederholten Vorgangs verdeutlichen.

Die beschrifteten, quadratischen rechte Hände der Gebrüder Arbeit stellen miteinander eine Serie von Seiten auf dem Mauerbild dar, die wie die Seiten eines Vertrages das Gewicht der ganzen Botschaft auf sich verteilt tragen. Wie der Vertrag in die einfache Winkbewegung einbezogen wird, ist in den Kreuzberger Wandbildern vorzüglich gezeigt.

Eines der großen Bilder mit einer Gruppe von Köpfen stellt eine Art Stammbaum dar. Ein heiteres, belustigtes Gesicht taucht geheimnisvoll in dem rosafarbenen Stamm auf, der sich dann in Äste verzweigt, die mit runden Köpfen bestückt sind, von denen einige ganz ausgearbeitet, andere aber noch ohne Sinnesorgane sind. Die vorderste Gestalt des Bildes schiebt sich zu uns her, ein Bein auf dem unteren Rand der Mauer, fast darüber hinaussteigend. Sie nähert sich und hebt beide Arme.

Als sei sie ansteckend, strahlt diese Geste über den Bildbereich hinaus; der Gesichterbaum wird zu einem Geflecht von "Hallos". Diese ausladende Geste hört am Rand des Stammbaums nicht auf. Sie wiederholt sich ständig in den erhobenen Armen eines riesigen rothaarigen Kindes, dessen Locken bis zur oberen Mauerkante hochfliegend, in der schönen Serie stilisierter, schablonisierter Freiheitsstatuen, deren Arme sich unermüdlich einladend heben, in den verstreuen weißen Handabdrücken, die eine andere Gruppe von Köpfen in Fenstern vor eisblauem Hintergrund.

Der Stammbaum ist da an der Mauer, wo sich früher eine Inschrift befand: "Nur der Stamm ist noch am Leben". Die spöttische Belustigung, mit der elterliche Stamm unter dem Dickicht seiner Nachkommenschaft hervorschaut, ist die Antwort auf diese absurde Behauptung. Wie der Stammbaum sind auch die anderen Kreuzberger Mauerbilder Signale der Lebendigkeit. Wenn die Form der Bilder das Prinzip "Fast Form Manifest" gilt, so gilt für ihren Inhalt "Quick Matter Manifest." Es kommt darauf an, die Schnelligkeit sichtbar zu machen: Auf Lebendigkeit stößt man nicht zufällig, sie zieht die Aufmerksamkeit auf sich, schreit heraus was es damit auf sich hat. Aber wer ist eigentlich lebendig? Wer winkt eigentlich?

Welcher Vertrag wird mit der wiederholten Geste eigentlich unterschrieben? Teilweise ist die bemalte Mauer der Versuch, einen Gruß zwischen Ostberlin und West-Berlin darzustellen. Genau gesagt: "Wie bei einem Schulkind, das sich selbst eine Valentinskarte schickt, ist es West-Berlin Darstellung von Ostberlin, das West-Berlin grüßt."

Die Kreuzberger Maler haben die elementaren politischen Freund-Fein-Kategotien durcheinandergebracht. Das stumme, graue, ausdruckslose Betongesicht des Feindes ist ein breites, fröhliches, munteres Gesicht geworden und summt sein "Ich liebe dich" unverdrossen vor sich hin. Salut Veronika! Aus dem häßlichen Feind wird der schöne Freund, spontan, komisch und keck.

Auf der anderen Seite der doppelten Mauer sind die Gesichter in den Wohnungsfenstern zu weit entfernt und zu gefährdet zum Winken, aber die gemalten Kopfgruppen -riesige Fenster in der Mauer, riesige Köpfe in den Fenstern- tun tagaus, tagein nichts anderes als winken. Kein Wunder, daß die Einstellung zu Ostberlin in Kreuzberg positiver ist als irgendwo sonst in der Stadt.

Die bemalte Mauer belebt -und bevölkert von neuem- den Korridor aus toter Erde zwischen den beiden Mauern. Diese Kreuzberger Version von Mitteleuropa blüht und gedeiht, prahlt mit grell leuchtenden Farben und bleibt am Leben. Die Mitte dehnt sich aus und bezieht die, die nicht in der Mitte sind, mit ein. Im Gewühl zwischen afrikanischen Köpfen, den Gebrüdern Arbeit, rothaarigen Kindern und sensiblen Elefanten streunen die Bewohner der Grenzgebiete herum: Wunderhübsche Freiheitsstatuen stehen gleich neben Berliner Bären; und ein Graffitistreifen ruft es voller Ungeduld einladend heraus: "Gorbatschow! Wir warten auf dich!"

Wer sind die Gebrüder Arbeit, die den Beton hochheben und ihm Sensibilität verleihen? Zunächst einmal sind es die französischen Maler in Kreuzberg. Thierry Noir der fast alle Bilder gemalt hat, die hier ausgewählt wurden, bevor die Namen der Künstler überhaupt bekannt waren, und "ses copains" Christophe Bouchet, Kiddy Citny und andere, die man oft an der Mauer trifft. Zur Gesellschaft der Gebrüder Arbeit gehören aber noch viele andere. Das gigantische Kreuzberger "Animationslabor" ist ein gemeinsames mitteleuropäisches Projekt.
Bei einer kurzen Aufzählung der Hauptmerkmale des Arbeitsmedaillons könnte man versehentlich annehmen, ein Gemälde von A.R. Penck, anstatt eines Mauerbilds von Thierry Noir sei Gegenstand der Diskussion. Die Verlängerung von Armen und Füßen zu Werkzeugen, die freischwebenden, deutelnden Pfeile, die Darstellung von Europäern und Afrikanern nebeneinander auf der Bildfläche, die aneinandergelegten, riesigen, stilisierten menschlichen Gestalten mit noch gigantischen Köpfen, die intensive Beschäftigung mit Grenzübergängen, diese Liste gilt für das Arbeitsmedaillon wie auch für Penck "die Zukunft des Emigranten", das gleich in der Nähe, in der Nationale Galerie hängt, sowie eine ganze Reihe seiner Gemälde und Zeichnungen.

Wenn man statt eines einzelnen Bildes eine Bilderfolge betrachtet, ist das Gegenstück dazu nicht der individuelle Rahmen der Bildfläche, sondern die Abfolge von Einstellungen bei einem Film. Wie die Mauer bleibt auch der "Himmel über Berlin" unbeeindruckt von allem "Reizenden".
Dieses Berlin ist weltfremd und leichtsinnig.

Wie die Mauer ist der Film völlig absolviert in diesem Arbeits-schwebezustand, der Aufhebung der materiellen Welt. Auch hier gibt es einen Elefanten, der sich zu einem Vorzeigen-Handstand auf seine wackligen Vorderbeine stellt; und minutenlang verharrt der Film auf einer Trapezkünstlerin, die kopfüber in der unbewegten Luft hängt. Auch hier wird das Überwinden der Mauer nicht als der verbriefte Zugang zu einem gegebenen Nationalstaat verstanden, sondern ins Menschenleben, in die Lebendigkeit.

Wenn der Engel seine Absicht verkündet, menschliche Gefühle anzunehmen, geht er mit dem anderen Engel nicht etwa auf der Ost oder der Westseite, sondern in dem Korridor von toter Erde zwischen den beiden Mauern. Wie die Kreuzberger Künstler hat sich Wim Wenders diesen leeren Mittelraum ausgesucht und ihn bevölkert. Als der Engel sich von der Mauer entfernt, wendet er sich um und sieht auf einer Leiter einen Mauermaler bei der Arbeit. Erstaunlischerweise ist es Thierry Noir. Künstler und Engel tauschen eine Geste aus, sie winken.

Die Ähnlichkeiten zwischen den Mauerbildern und den erschütternden Grenzübergangsszenen in Heiner Müllers "Philoktet", zwischen den Mauerbildern und dem Körper-Enjambement von Thomas Florschütz'Fotografien, zwischen den Mauerbildern und den innovativen Bewegungsabläufen in Leonore Ickstadt "Rope Dances" entstehen deshalb, weil nicht nur Noir, Bouchet, Citny, Penck, Wenders und Handke die "Gebrüder Arbeit" sind, sondern auch Müller, Florschütz, Ickstadt und die Ständig Abstürzenden seiltanzenden Künstler der Mittelwelt.

Die Zukunft des Emigranten, der Himmel über Berlin, Philoktet, Riposte und Rope Dances, sie alle gleichen dem riesigen atmosphärischen Kreuzberger Bild, Mitteleuropas Signal der Lebendigkeit.