Die Berliner Mauer

Fast 30 Jahre lang durchschnitt ein Betonstreifen Berlin. Die im Jahre 1961 von ängstlich nach Westen schielenden Funktionären der DDR errichtete Mauer teilte lange Jahre die ehemals pulsierende Großstadt. Sie machte aus Westberlin einen nur mit west-deutscher Hilfe lebensfähigen Krüppel.

Dem Ostteil ging es nach dem Mauerbau kaum besser. Ehedem Teil einer Weltmetropole dümpelte er jahrzehntelang trostlos im kleinbürgerlichen Sozialismus dahin. 240 Menschen kamen an der Mauer zu Tode. Der "kalte Krieg" hatte hier sein skulpturales Äquivalent gefunden. Niemand wird also bedauern, daß dieses Bauwerk 1989 endlich dem Willen des deutschen Volkes zum Opfer fiel. Jetzt ist Berlin wieder Berlin.

Doch die Mauer war in den Jahren der Teilung nicht nur Schandfleck, sie war auch eine wichtige kulturelle Institution. Gerade wegen ihrer unübersehbaren Brutalität war die Mauer für viele Menschen ebenso faszinierend wie abstoßend. Der Gang zur Mauer hatte für die Besucher aus dem Westen immer auch etwas von Katrosphentourismus. Wie schrecklich, dachte man vor der Mauer stehend. Und wie gut, daß mir das nicht passiert ist, man stand ja auf der richtigen Seite. So wurden Fotos gemacht und die üblichen Erinnerungsgraffitis hinterlassen. Bei der Mauer hatte dies schon einen zusätzlichen Reiz.

Auch die Westseite der Mauer gehörte der DDR und es war natürlich verboten, darauf zu malen. So konnte man diesem Unterdrückerssytem - ganz heldenhaft und mit geringem Risiko - mal zeigen, was man von ihm hielt: "Karl-Heinz war hier" und "Nieder mit der Mauer" schrieb man auf die Wand. Nach und nach wurde die Mauer zur längsten Graffiti-Fläche der Welt. Zu den Hinterlassenschaften der Touristen gesellten sich eine Vielzahl anderer Graffitis. Gemalte und gesprühte Bilder entstanden, einiges davon hatte durchaus künstlerischen Wert.

In den 28 Jahren ihres Bestehens der Mauer war Berlin im Besitz eines einzigartigen, sich ständig im Wandel befindlichen Kunstwerkes. Es dürfte die größte bemalte Fläche der Welt gewesen sein. Etwas Vergleichbares gab es nie und wird es wohl auch nie wieder geben. Zahlreiche Bildbände, die interessanterweise zum großen Teil von ausländischen Verlagen herausgegeben wurden, bewahrten einen Teil der vergänglichen Graffitis vor endgültiger Vergessenheit.

Überwiegend fanden sich die gemalten und gesprühten Bilder natürlich auf der Westseite der Mauer.
Auf der Ostseite galt die farbliche Veränderung des "Antifaschistischen Schutzwalls" als verbrecherischer Akt und wurde drakonisch geahndet oder bereits im Vorfeld verhindert. Ob sich überhaupt zu Zeiten der DDR jemand getraut hat, die Ostseite zu bemalen, ist mir nicht bekannt. Nirgendwo wurde im Laufe der Jahre der Unterschied zwischen den beiden gesellschaftlichen Systemen deutlicher als hier.

Im Westen herrschte unkontrollierbare, teils chaotische Vielfarbigkeit - im Osten dominierte unübersehbar ordentlich das kollektive Grau. Die "Berliner Mauer" machte so - unabsichtlich und ohne Konzept - besser als viele andere Versuche die unterschiedlichen gesellschaftlichen Positionen transparent.

Gleichzeitig fand die Entwicklung der illegalen Wandkunst des Westteils auf ihr kontinuierlich ihren Niederschlag. Die Bemalung und Besprühung der Mauer zeigt eindrucksvoll, daß Wandmalereien immer schon Spiegel der Zeit und des dazu gehörenden, sich wandelnden gesellschaftlichen Systems waren.

Anfangs fanden sich an der Westseite lediglich einzelne politische Spruchgraffiti, die sich speziell mit der deutschen Teilung auseinandersetzten. Auch persönliche Probleme wurden thematisiert. Nicht zu vergessen - wie schon erwähnt - die zahllosen Erinnerungsgraffiti, die von Touristen auf die Mauer gekritzelt wurden. Ihnen allen fehlte weitgehend der Anspruch auf Gestaltung. Mit der Studentenbewegung der Sechziger Jahre nahm die Mauer vorübergehend den Charakter einer öffentlichen Klagemauer an.

Politische Aussagen wurden wichtiger. Zahlreiche Stellungnahmen zu gesellschaftspolitischen Themen wurden gesprüht und gemalt, ergänzt und wieder übermalt. Zwischen den Akteuren fand eine intensive Kommunikation statt. Die Inhalte waren auch jetzt noch wichtiger als die Form. Doch mit den Zeiten änderten sich die Graffiti erneut.

Individuum-zentrierte Aspekte wurden wichtiger. Das Gesicht der Mauer wurde in den Achtziger Jahren zunehmend von Bildern bestimmt, bei denen der Kommunikationscharakter nicht mehr offensichtlich war. Mehr und mehr traten ästhetisch durchgestaltete Bilder in den Vordergrund.

Politische Themen nahmen gleichzeitig an Bedeutung ab, obgleich ein Graffiti schon formal und speziell an diesem Ort immer eine politische Aussage bleibt. Künstler wie Keith Haring, Richard Hambleton und Jonathan Borofsky bemalten die Mauer. Prägend für den Stil der Mauergraffiti wurden in dieser Zeit Insbesondere Bilder der Künstler Thierry Noir und Christophe Bouchet.

Auch die ständig wachsende Writergemeinde Berlins nutzte in den letzten Jahren des Bestehens der Mauer das Bauwerk als Untergrund zum Malen. Die gesprühten, großflächigen "Pieces" nahmen schließlich die größte Fläche ein und überwucherten respektlos auch die Bilder der renommierten Künstler. Es war ein Sieg der Egozentrik über den Gemeinsinn, der den Abschluß der Mauergeschichte markiert. Ist es ein Zufall, daß die Mauer zu einem Zeitpunkt fiel, wo politische Bilder auf dem Bauwerk kaum noch eine Rolle spielten?

Für die öffentliche Bildnerei war die Mauer ein Glücksfall. Wo sonst in aller Welt war es möglich, stundenlang und meist ungestört seiner Kreativität in aller Öffentlichkeit nachzugehen. Die Allgemeinheit störte sich an den Bemalungen nicht. Im Gegenteil, Sympathie für die Maler war die Regel. Stand doch die Mauer symbolisch für ein wenig geliebtes politisches System . So herrschte dann 1990 auch wenig Trauer über ihr zum Teil ausgesprochen unwürdiges Ende.

Gnadenlos wurde das sterbende Bauwerk schließlich ausgeschlachtet. Erinnert sei hier an die Menschen, die mit Hammer und Meißel kleine Bröckchen aus der Mauer schlugen, um sie dann an Touristen zu abenteuerlichen Preisen zu verkaufen. Nicht weniger unangenehm berührt konnte man zu gleicher Zeit auch das Treiben des VEB Limex zur Kenntnis nehmen. Dieser Ostbetrieb lernte die Lektion der westlichen Marktwirtschaft schnell und verhökerte das geschichtliche Moment gleich blockweise. Zuvor aber wurden die lebendig gewachsenen Narben der Mauersegmente noch wegrestauriert.

Reiche Amerikaner zahlten zeitweise Höchstpreise für diese aus dem Zusammenhang gerissener Fragmente. Sensibilität war im Umgang mit der Berliner Mauer nur selten anzutreffen. So blieb das Bauwerk des Ostens auch in seinem Untergang ein Spiegel der Zeit.